Wem sich schon einmal leidenschaftliche Küsse mit der rauschenden Meeresbrandung vermischt haben, nachts und in meinem Fall am Strand von Kreta, die Sterne zum Greifen nah und doch unendlich fern am dunklen Himmel leuchtend, eine solche Frau, ein solcher Mann dürfte das Meer für alle Zeiten als eine Art spirituelle und die Seele heilende Heimat empfinden. Status und Geld und den normalen Alltag mit seinen Automatismen zumindest für Augenblicke als unwichtig aus dem Bewußtsein löschend. Natürlich muß man nicht unbedingt eine Romanze am Strand erlebt haben, um sich dem Meer intuitiv verbunden zu fühlen. Man kann zum Beispiel auch, wie meine Mutter es tat, ihren Ehering am Hafen von Odessa ins Schwarze Meer werfen, als Ausdruck von Unabhängigkeit. Auf welche Weise auch immer, das Meer übt oft einen befreienden Sog auf die Psyche aus.
Ungeachtet der Tatsache, daß selbst geübte Schwimmer verglichen mit dem Leben an Land nicht allzu lange in aufgewühlten Ozeanen überleben können, öffnet sich angesichts des Meeres der durch Obsessionen oder Sorgen oder Konditionierungen verhangene Horizont der meisten Menschen zumindest für wenige Augenblicke. Sei es vom sicheren Ufer aus oder vom geschützten Oberdeck eines Schiffes, provoziert die reale und mehr oder weniger menschlich unberührte Weite des Meeres auf natürliche Weise eine Öffnung des Bewußtseins: Ein umfassenderes, das eigene Leben im echten Hier und Jetzt und nicht nur in der Vorstellung befreiendes Bild brandet wortwörtlich auf. Jenes uralte Bild der Welle, die aus dem Ozean geboren wird und wieder darin versinkt, sterblich und unsterblich zugleich, ein Spiegelbild auch des menschlichen Daseins, aktualisiert sich beim Meer psychisch eigentlich von selbst. Dieser Mythos ist kein Gleichnis, sondern Realität.
Wenn man sie denn überhaupt wahrnimmt. Denn wir leben wahrnehmungsmäßig in paradoxen Zeiten. Dank des Smartphones wissen wir zwar immer, was überall auf der Welt im Detail passiert, fast als wären wir dabei gewesen: beim Flugzeugabsturz, beim Massaker, beim Konzert oder auch bei der Katze, die eine Kobra auf Abstand hält, weil ihre Reflexe schneller als die der Schlange sind.
Aber durch dieses dauernde Bombardement an Details aus allen Hotspots und Krähwinkeln der Welt ist die Wirkung dessen, was vor der eigenen Nase sich ereignet, plötzlich komplementär abgeschwächt. Da die unmittelbare Gegenwart sich heutzutage in medialer Konkurrenz zu allen globalen Ereignissen befindet, nehmen viele Leute die konkrete Wirklichkeit vor ihren Augen nur noch dann wirklich wahr, wenn sie online konkurrenzfähig im Sinne von „Posten“ ist. Und das Meer ist, wenn nicht gerade die Sonne blutrot am Horizont versinkt und Menschen am Strand wie Pinguine mit ihren Smartphones alle in diese Richtung starren, als Motiv in gewißer Weise zu wenig individuell, zu unscheinbar trotz seiner vage gefühlten Macht.
Es ist ja geradezu das Wesen jedes echten Meeres, selbst eines eher kleinen wie das der Ostsee, das Individuelle völlig zu relativieren. Mit anderen Worten: Wenn wir in einer narzißtischen Gesellschaft leben, was wir global betrachtet vermutlich tun, dann verursacht das Rauschen des Meeres für viele eher ein unbewußtes Unbehagen und erzeugt keineswegs Glücksgefühle von Verbundenheit, da die vergleichsweise grenzenlose Weite des Meeres jedes von sich zu sehr eingebildete Ego sofort in seiner Bedeutung relativiert.
Narzißten schätzen das Meer zwar als Kulisse für Selfies, aber nicht die Tatsache, daß sie selbst aus der Perspektive des Meeres am Ende des Tages kaum mehr als vergängliche Gischt sind. Die oberflächliche Begeisterung für das Meer läßt dann schnell nach. Solange sie jedenfalls nicht mit dem Ozean selbst kommunizieren, was aber eine gewiße Demut oder zumindest Respekt vor der Natur voraussetzt, – und eben durch ein zu großes Ego blockiert wird.
„Kommunikation“ mit dem Ozean ist übrigens überhaupt nichts Esoterisches. Es bedeutet einfach, daß man die menschliche Vorstellungen transzendierende Realität des Meeres wahrnimmt. Was ein Korrektiv gegen jede Art von egomanischen, oft nur durch Online-Bildschirme vermittelten Wahnsinn sein könnte. Davon gleich mehr.
Wobei anzumerken ist, weil dies leicht übersehen wird: Nicht nur der gemeine Westler, oft atheistisch oder hedonistisch bis ins Mark, sondern auch der gegenwärtig typische religiöse Fanatiker, der mit Messer und Auto und Bombe Terror verbreitet, gerne Frauen schlägt und Musik verachtet, ist zutiefst narzißtisch, da er oder sie sich relativ schamlos und von Zweifeln ungetrübt mit Gottes Willen identifiziert, also die eigene Person grenzenlos überhöht. Was völlig unabhängig davon, ob man an Gott glaubt oder nicht, unter welchen Namen auch immer, im psychologischen Sinn größenwahnsinnig ist.
Wenn so gesehen sexuell aufgebrezelte Leute auf CSD-Demonstrationen stolz und schamlos ihre Geschlechtlichkeit präsentieren, so ähneln sie vom psychischen Reifezustand erstaunlicherweise jenen fanatischen Attentätern, die mit Lastwagen in Menschenmengen hineinrasen. Die Gemeinsamkeit beider auf den ersten Blick extrem gegensätzlich anmutender Lebensentwürfe ist eben diese, daß das übergriffige Ego völlig von der Leine gelassen wird, entweder religiös oder sexuell überdreht, ohne menschliches Maß und Grenze.
In C.G. Jungs Terminologie wird dieser aufgeblähte Geisteszustand mit „Inflation“ beschrieben; das heißt, eine Idee ergreift so sehr von Menschen Besitz, daß sie völlig vergessen und verdrängen, wer sie wirklich und was ihre echten Motive sind, sondern sie leben stattdessen völlig im Bann einer Vorstellung, vergleichbar der Bewußtseinstrübung durch harte Drogen.
Nach Jung sind dabei mächtige unbewußte Prozesse am Werk, vor allem die Identifizierung mit Archetypen, wie dem des „Helden“, die das Bewußtsein völlig überschwemmen. Und ab einer bestimmten Intensität beispielsweise dazu führen können, daß sich jemand einen Sprengstoffgürtel umbindet und sich und die Passagiere in einem vollbesetzten Bus in Tel Aviv oder sonstwo im freien Westen in die Luft jagt. Oder sich eben halbnackt eine Hundemaske umlegt und sich auf einer öffentlichen Straße auf allen vieren an einer Leine ausführen läßt. Letzteres wäre dann traditionell der Archetyp des Teufels, also der ungezügelten sexuellen Obsessionen, der das Bewußtsein verdunkelt. – Psyche und Gesellschaft und damit Politik sind jedenfalls keine getrennten Sphären, sondern spiegeln einander, zumindest das sollte man von C. G. Jung als Erbschaft annehmen.
Womit man wieder beim Meer wäre – im Jungschen Sinn übrigens auch ein Archetyp, für das ungezähmt Unbewußte als solches stehend – und seiner potentiell psychisch heilenden Kraft. Weil es eine Wirklichkeit jenseits der sozialen und psychischen Konditionierungen präsentiert, könnte es auf diese als natürliches Korrektiv wirken. Weil es nicht den menschengemachten Gesetzen und Regeln unterworfen ist, sondern denen der Natur, könnte es jenen neurotischen Wahn vieler Leute ausbalancieren, daß nur das zählt, was in ihren Vorstellungen herumspukt.
Die Rippströmung beispielsweise an vielen Stränden, also die gefährliche Rückströmung, die schon vielen naiv Badenden zum Verhängnis geworden ist, kümmert es nicht, ob die Menschen, die sie ins offene Meer zieht, woke sind oder sich halal ernähren, ob sie an Allah oder Jesus glauben, ob sie das neueste iPhone besitzen oder obdachlos sind, wie die Haut pigmentiert ist, wieviel Follower auf Instagram es gibt, – und so weiter.
Das Meer relativiert als Naturgewalt jede Person und würde diese Erfahrung vom Bewußtsein wirklich zugelassen werden, würde sofort und automatisch eine innere Demut einsetzen, ein intuitiver Respekt vor der Welt, der Fanatismus in seinen tausendundeins Spielarten praktisch aus dem Stand heraus verhindert. Weil man eben angesichts von echter Naturgewalt die Grenzen des eigenen Bewußtseins spürt, was den Impuls, sich für gottgleich zu halten, empfindlich schwächt. Und andererseits Empathie stärkt, weil man die Verletzlichkeit und Vergänglichkeit von jedem und allem angesichts des Meeres spürt.
Eine solche Meerschau wäre noch vor zwei Jahrzehnten, bevor Bildschirme in jeder menschlichen Pfote ununterbrochen flimmerten, an der Grenze zur Binse gewesen, thematisch nah am Kitsch möglicherweise, weil die intuitive Wahrnehmung der Menschen noch viel intakter als heute gewesen ist. Das Meer wurde nicht mit dem Bild vom Meer verwechselt, es gab zwei Geschlechter und Kohlenstoffdioxid wurde nicht hysterisch als Giftgas verteufelt, sondern auch als lebensnotwendig für das Wachstum der Pflanzen verstanden. Und so weiter, was ich damit sagen will: Über das Meer zu schreiben, ist heute genauso ein Statement, wie das bekannte von Brecht, daß nach Auschwitz Gedichte über Bäume ein Verbrechen seien.
Was schon damals natürlich anmaßend und leicht irre war, aber heutzutage, wo die virtuelle Realität die wirkliche Stück für Stück abschaffen möchte, sind Texte über Bäume, über das Meer oder auch über den Supermarkt um die Ecke eine Art Notwehr. Von Autoren jedenfalls, deren Sprache noch von Wirklichkeit und nicht nur von Vorstellungen über diese getrieben ist.
Die gute Nachricht ist allerdings, daß der Respekt und die Liebe zur Natur natürlich immer noch präsent sind, allen medialen Scheinwelten zum Trotz. Vor allem bei Leuten, die konkret mit ihr zu tun haben. Die Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft, DLRG, die beispielsweise den Strand von Warnemünde tagsüber im Sommer beobachtet, hängt bei starkem Wellengang ein weithin sichtbares rotes Fähnchen an ihren Wachtürmchen auf. Was bedeutete, daß Baden lebensgefährlich und deshalb verboten ist. Rettungsschwimmer, weil sie noch authentischen Kontakt zum Meer haben, machen so gesehen, auch wenn sie es selbst nicht wissen, einen bewußtseinsmäßig aufklärerischen, geradezu spirituellen Job in diesen virtuell verblendeten Zeiten.