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Silvo Lahtela

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Praxis oder Hamsterrad

Buddha Kettlebells Laufschuhe
Zwischen spirituellem Krampf und manischer Fitness: Die psychischen Bedingungen für eine authentische (Yoga-)Praxis.
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Die Zielscheibe

 

     Viele kennen das Icon der Fitness App von Apple zumindest vom Sehen: Eine stilisierte Zielscheibe mit drei farbigen Ringen, die Bewegung, Training und Stehen symbolisieren. Bei aktivierter App „schließen“ sich im Laufe des Tages die zunächst nur im Ansatz vorhandenen Ringe kontinuierlich je nach eigener Aktivität immer weiter, bis sie eben bei Erreichung der eingestellten Vorgaben einen vollständigen Kreis bilden und damit anzeigen, daß man das Tagessoll an körperlicher Aktivität erfüllt hat.

     Wenn man über Wochen und Monate fleißig war, gibt es auch Belohnungen, wie zum Beispiel digitale, an Wappen oder Orden erinnernde Auszeichnungen; die man sich zwar nicht an die Brust heften, aber immerhin auf seinem Smartphone herumzeigen oder sich selbst anschauen kann.

 

Die Zielscheibe ist nicht das Ziel

 

     Es gibt jetzt gar nicht so wenige Leute, die beispielsweise plötzlich deswegen spazierengehen, sie würden es sonst also nicht tun, weil sie ihren „Ring schließen“ wollen. Oder gar „müssen“. Auf den ersten Blick durchaus gesundheitsfördernd, für das Thema dieses Blogs bedeutet es aber hauptsächlich, daß sie typische und sehr moderne Vertreter der zielorientierten Fraktion sind. Es existiert aber als Kontrast dazu noch ein völlig anderer Mindset. Denn von der inneren Einstellung her gibt es bei allen Aktivitäten zwei gegensätzliche Tendenzen: Entweder eine Sache um ihrer selbst willen zu tun oder als Mittel zum Zweck.

 

Fertigpizza vs. selbstgemacht

 

     In ihrer puren Form existieren diese Haltungen eher selten, meist vermischen sie sich auf die eine oder andere Weise, so wie es zwischen Schwarz und Weiß unendliche viele Graustufen gibt. Kochen beispielsweise: Wer eine tiefgefrorene Pizza aus der Verpackung nimmt und in den Ofen schiebt, dürfte deutlich mehr zweckorientiert sein, nämlich den Hunger zu stillen, als jemand, der den Teig mit aufs Gramm genau abgewogenem Mehl, Hefe und Salz selbst macht und wo mit dem Teig auch das Herz der Person aufgeht. Im letzteren Fall geht es zwar auch um Befriedigung des Hungers, aber der Prozeß dahin ist genauso wesentlich wie das Ziel und nicht nur austauschbares Mittel. Was aber nicht heißen soll, daß die notwendigen Handgriffe, um aus einer gekauften Tiefkühlpizza ein eßbares Gericht zu zaubern, also Verpackung aufreißen, Ofen aufheizen und so weiter, nicht auch Charme und Bewußtsein haben können. Es dürfte erfahrungsgemäß nur seltener der Fall sein.

 

Der Körper als Spiegelbild der Psyche

 

     Noch deutlicher werden die unterschiedlichen inneren Haltungen bei dominant körperlichen Aktivitäten, da ab einer gewissen Anstrengung der Zustand der Psyche sich sofort körperlich spiegelt. Jeder hat bestimmt schon einmal Läufer gesehen oder war selbst ein solcher, entweder beim Marathon oder im Park, wo angespannte Gesichtszüge und Tunnelblick sofort klarmachen, daß der Weg keinesfalls das Ziel, sondern eben nur der Weg und hoffentlich bald erfolgreich hinter sich gebracht ist.
      Aber es gibt auch Läufer, deren Mimik deutlich entspannter ist. Und zwar relativ unabhängig vom Fitnesslevel. Sie laufen vielleicht auch, um abzunehmen, um ihre persönliche Bestzeit zu verbessern oder vielleicht die Euphorie nach dem Lauf zu genießen. Was auch immer. Aber sie sind trotz solcher Ziele auch im Augenblick präsent, statt ergebnisorientierter Scheuklappen haben sie einen wachen Sinn für ihre Umgebung, ihr Atem ist gleichmäßig. Wenn sie wirklich wollten, beispielsweise für einen Sprint, könnten sie immer noch einen Zahn zulegen. Das Laufen selbst hat jedenfalls eine völlig andere Qualität, ist auch in sich selbst erfüllend, statt nur benutztes Mittel zu sein.

 

„Praxis“ vs. Training

 

     Eine solchermaßen auf den gegenwärtigen Moment und nicht nur und im Extremfall sogar überhaupt nicht auf das Ergebnis orientierte Aktivität wird traditionell Praxis genannt. Also nicht „Training“ oder „Workout“ oder „Arbeit“, – sondern „Praxis“. Und als Avantgarde dieser Art von Aktivität dürfte gegenwärtig für die öffentliche Wahrnehmung Yoga gelten, wo als kommuniziertes Geschäftsmodell Körper und Bewußtsein zu einer Einheit zu verschmelzen, volle Achtsamkeit auf den Weg statt neurotische Fixierung auf das Ziel propagiert wird. Die Yogahaltungen, Asanas, haben sozusagen einen spirituellen Glanz und eine Würde in sich selbst. Im Unterschied etwa zu den zielgerichteteten Übungen in Fitnessstudios, wo der körperlich-pragmatische  Aspekt klar dominiert und niemand auf die Idee käme, auf dem Laufband oder beim Zirkeltraining irgendwelche tiefen Erkenntnisse oder gar lebensverändernden Erleuchtungen zu gewinnen.

 

Die Attraktivität von Yoga

 

     Die Sehnsucht aber nach einer Einheit von Körper und Bewußtsein ist groß, so daß Yoga als mögliche Erfüllung in allen Varianten boomt. Insbesondere in den klassisch westlichen Kulturkreisen, wo das spirituelle Bedürfnis der Menschen mehr oder weniger völlig entwurzelt und zu einer rein individuellen Angelegenheit geworden ist. Es ist ja kein Zufall, daß das Firmenlogo von Apple, der angebissene Apfel, im normalen Alltag das christliche Kreuz, ob in Los Angeles oder in Berlin, in der öffentlichen Sichtbarkeit deutlich in den Schatten stellt.

 

Das moderne Yoga Dilemma nach C. G. Jung

 

     So verführerisch die Idee einer „Praxis“ auch ist, der spirituelle Touch für das körperliche Wesen Mensch, speziell betont durch das moderne Yoga, so gibt es dabei jedoch ein echtes Problem. Schon vor knapp 90 Jahren hat C. G. Jung in seinem Aufsatz: „Yoga und der Westen“ eine Entwicklung charakterisiert, die heute in voller Blüte steht. Weil der kulturelle Westen seit Jahrhunderten durch die wissenschaftliche Entwertung des Glaubens und der damit parallelen Relativierung der Kirchen im Kern spirituell heimatlos geworden ist – die Fähigkeit, ein Kernkraftwerk zu bauen oder mit Smartphones Videocalls abzuhalten, kompensiert diesen Verlust nicht ganz –, ist jeder mehr oder weniger bei der Befriedigung seiner transzendenten Bedürfnisse auf sich selbst gestellt.

     Weil nach Jung jedoch die psychische Struktur des abendländischen Bewußtseins sich nicht geändert hat, in erster Linie die – unbewußte – Dominanz des Rationalen und des sogenannt Vernünftigen, passiert nun folgendes: Wenn immer ein solches „westliches“ Bewußtsein spirituell auf der Suche ist – und das ist es solange, bis es fündig geworden ist, denn der Mensch lebt nicht von Brot allein –, wird es genau diese innere psychische Struktur auf alles legen, was seinen Weg kreuzt.

 

Yoga als Karikatur: Der „Krampf“ des Bewußtseins

 

     In Jungs Augen und speziell beim Yoga führt dies praktisch automatisch zur Karikatur der ursprünglichen Tradition. Er gebraucht sogar explizit das Wort „Krampf“. Sinngemäß meint er damit, daß die Kontrolle, die Yoga über Körper und Geist anstrebt, mit Asanas und Atemübungen und Meditation, darauf beruht, daß der klassische Yogi sich über die Mächte des Unbewußten – in der Hindu-Terminologie auch Götter genannt – zumindest intuitiv bewußt ist und es daher als „Wohltat“ empfunden wird, ihnen durch Yoga weniger ausgeliefert zu sein. Das Unbewußte ist  für Jung übrigens nicht wie bei Freud  nur eine Art tiefenpsychologischer „Sex and Drugs and Rock and Roll“, also unreflektierte persönliche  Obsessionen, sondern es bildet mit den aktivierten Archeytpen den Hintergrund aller menschenmöglichen  Erfahrungen, die auf den Einzelnen korrigierend, im Sinne menschlicher Vollständigkeit  und geradezu schicksalhaft einwirken. Das nur am Rande als skizzenhafte und naturgemäß etwas obskure Erläuterung.

     Der „östliche Mensch“ jedenfalls, Jungs Terminologie, hat direkteren Zugang zum derart verstandenden Unbewußten, auch wenn er es anders bezeichnet, und kennt daher dessen Macht auf das Ego und damit sich selbst auch viel besser.  So daß es vor diesem Hintergrund tatsächlich Sinn macht, das dergestalt wirklich wilde Unbewußte mit yogischen Techniken zu zähmen, beziehungsweise umgekehrt das Bewußtsein durch kontinuierlichen Kontakt mit dem Unbewußten wirklich zu erweitern.

 

Die Verdrängung des Unbewußten blockiert das authentische Yoga

 

     Während hingegen gemäß Jung der typische „westliche“ Zeitgenosse sein Bewußtsein für den Nabel der Welt hält, das Unbewußte (und dessen „irrationale“ Erscheinungsformen wie Religion, Mythen, Märchen und so weiter) als persönlichkeitsbildenden Faktor verdrängt oder sogar explizit ausschließt. Und daher sein wahres Selbst trotz Stolz auf abendländische Errungenschaften wie Quantenphysik, die er aber auch eher selten versteht, überhaupt nicht kennt.

     Diese chronische Verdrängung des Unbewußten hat nun die Konsequenz, daß die bewußte Kontrolle über Körper und Geist, die Yoga bietet und ausmacht – auch in seinen Variationen von beispielsweise Tantra und Meditation – eben leider nicht zur psychischen Befreiung führt, sondern im Gegenteil zu einer weiteren zwanghaften Überdrehung des Bewußtseins unter meist esoterisch präsentierten Vorzeichen.

     Dies versteht man selbst jetzt beim Lesen natürlich nur, wenn man das Unbewußte im Jungschen Sinn – als das Ego psychisch korrigierende Macht – als Realität anerkennt. Zumindest als Hypothese akzeptiert. Darauf steige ich jetzt aber nicht weiter ein, sondern setzte es als Bedingung voraus; sonst würde der Rahmen dieses Blogs, der sowieso schon sehr weit gespannt ist, endgültig gesprengt werden.

 

Der kritische Blick

 

     Da gerade auch überzeugende Argumentationsketten den bekannten Makel haben können, zwar logisch, aber trotzdem nicht wahr zu sein, ist ein Realitätscheck von einleuchtenden Theorien immer eine gute Sache.

     Vor über einem Jahr war es bei mir so weit, daß ich mir bewußt den Jungschen „Krampf“ beim gegenwärtigen Yoga näher ansehen wollte. Dazu ist es wichtig zu wissen, daß ich selbst seit gut zehn Jahren Ashtanga Yoga praktiziere, also bis die Zehenspitzen in das moderne Yoga involviert bin; auf Sanskrit am Anfang der Yogaklasse zu „chanten“, ist für mich ähnlich normal wie mit Auto an einer roten Ampel zu stoppen. Allerdings habe ich auch eine eigene Praxis zuhause entwickelt, bin also inzwischen relativ unabhängig von Lehrern und Schulen. Eine auch innere Unabhängigkeit, ohne die ich das folgende Experiment niemals gemacht hätte.

 

Ein spiritueller Crashtest

 

     Ich besuchte also vor einiger Zeit eine typische Ashtanga-Yogastunde im sogenannten „Mysore“-Stil: Jeder im Studio praktiziert im eigenen Tempo eine bestimmte Abfolge von Yogahaltungen, spezielle Serien, unabhängig von den anderen Schülern, – während der Lehrer oder noch öfter die Lehrerin herumgeht und individuell korrigiert. Der Name „Ashtanga“ bezieht sich auf einen achtfachen Weg, der als ein Element Yogaposen beinhaltet, aber als Endziel die vollständige Befreiung des Bewußtseins und Erleuchtung in meditativer Versenkung hat. Kann man auch anders ausdrücken, aber der Kern ist: Die körperlich recht herausfordernde Praxis ist vom anvisierten Horizont her alles, nur keine fitnessorientierte Gymnastik. Auch wenn es genauso aussehen mag.

 

Meditation in Aktion vs. Aktion

 

     Und weil fokussierte Versenkung ja eigentlich sowieso der tiefere Sinn der Sache war, beschloß ich damals, statt Yogaposen zu praktizieren, einfach nur dazusitzen und die Atmosphäre im Studio auf mich wirken zu lassen. Ungefähr anderthalb Stunden meditierte ich also, während um mich herum die Schüler ihre Programme abspulten. Es waren technisch sehr Fortgeschrittene dabei, die elegante Handstände und extreme Rückbeugen ausführten, aber auch völlige Anfänger, die hüftsteif kaum ihre Füße mit den Händen erreichen konnten. Manchmal hörte ich auch die Stimme des Lehrers, der sich über anatomische Details wie das Entspannen des Psoas-Muskels ausließ.

 

Der Atem als Test

 

     Nun ist es so, und jeder der wirklich lange Yoga macht, kann es bestätigen, und es wird auch in traditionellen Schriften immer wieder erwähnt, daß der freie Atem der Indikator für die Qualität der Praxis ist. Ein fließender Atem auch unter der körperlichen Belastung der Yogaposen signalisiert die Einheit von Bewußtsein und Unbewußtem, von Psyche und Körper, von Emotion und Bewegung. Vor allem aber ist ein solcher Atem Ausdruck dessen, daß man präsent in der Gegenwart ist. Die typischen Verzerrungen durch Vorstellungen und Phantasiewelten sind ausgesetzt, das Bewußtsein hat bei ruhigem Atem intensiveren Kontakt mit der Wirklichkeit wie sie ist. Entscheidungen, die man mit „freiem Atem“ trifft, sind fast immer besser, glücklicher, nachhaltiger.

     Der Atem, so flüchtig er für die normale Wahrnehmung ist, hat darüber hinaus die selten bewußt reflektierte Eigenschaft, daß er die Lebenskraft (oder Prana oder Qi, jede Kultur hat ihre Namen dafür) als solche nicht nur verkörpert, sondern wirklich ist. In einem sehr realen Sinn atmet nicht das Ego, sondern das Leben selbst.

      Das autonome Nervensystem, um einen Ausdruck der Schulmedizin zu verwenden, setzt den Atem  auch im Schlaf fort, wenn das Ego schläft und das Reich der Träume herrscht, es steht nicht unter der Kontrolle des Bewußtseins. Wenn man dies wirklich versteht, sozusagen mit den eigenen Lungen, dürfte man eine Ahnung davon bekommen, daß auch das psychisch Unbewußte viel einflußreicher  ist als man sich angewöhnt hat zu denken. Zumal es direkt auf den Atem wirkt: Wenn jemand beispielsweise  durch eine aus dem Unbewußten aufsteigende psychische Vorstellung (etwa plötzlich Werwölfe im nächtlichen Wald  sieht) eine Panikattacke erlebt, dann verändert sich sofort der Atem.

       Weil nun die Psyche, damit inklusive das Unbewußte  und  der Atem so untrennbar verbunden sind, sind die „Turbulenzen“ des Atems keineswegs banal, sondern drücken unwillkürlich einen parallelen geistigen Zustand aus. Wer also einen geschulten Sinn für den Atem hat, sieht diese Synchronizität intuitiv und relativ schnell. (In einem anderen Zusammenhang habe ich darüber bereits geschrieben: „Der Atem der Smartphone-Würmer“).

 

Der unfreie Atem als Symptom

 

     Das für mich Faszinierende und auch Ernüchternde war jetzt, daß der Atem sowohl der Anfänger, aber auch der Fortgeschrittenen in dem Yoga-Studio entweder viel zu laut, das heißt angestrengt war. Ich hatte teilweise das Gefühl, im Berliner Hauptbahnhof auf einen Zug zu warten, so hektisch mutete mich die Atmosphäre im Raum an. Oder der Atem fand überhaupt nicht statt, es herrschte eine Art Friedhofsruhe auf der Matte. Die Leute machten zwar alle äußerlich Yoga, aber wirklich präsent waren sie innerlich eben nicht. Es gab Ausnahmen, aber es waren vielleicht zwei Personen von zwanzig, deren Atem hörbar und frei war. Immerhin.

     – Und ich hatte natürlich leicht denken. Denn es ist natürlich viel leichter, meditativ im Sitzen präsent zu sein als beispielsweise im Kopfstand. Weswegen ja Buddha letztlich auch im Sitzen seine Erleuchtung hatte. Aber  genau wegen dieses historischen Beispiels sollte man sich bewußt sein, daß die Posen des Yoga zwar die Entwicklung des Bewußtseins fördern können, eben durch die Integration des Atems unter körperlichem Stress, sie aber genau aufgrund dieser körperlichen Herausforderung  den Kompaß immer tendenziell Richtung „Fitness“ verschieben.
   Daß der Atem,  der körperlich die spirituelle Essenz des Yoga ausmacht, in einem normalen Yogastudio  nicht die Hauptsache darstellt, ist so gesehen  zwar mehr oder weniger erwartbar. Aber wenn Yoga tatsächlich mehr sein will als eine spirituell aufgeblähte Gymnastik, dann ist der Fokus auf die Integration des Atems entscheidend. Was eine sehr subtile Angelegenheit ist, ein introvertierter und kein extrovertierter Prozeß. Und spätestens hier taucht wieder das von Jung angesprochene Problem auf, daß das westliche rationale Bewußtsein im Prinzip extrovertiert ist und schnell das Interesse verliert, wenn eine Sache zu subtil für die normalen Sinne wird. Narzißtische Instagram-Posts von coolen  Yogaposen – extrovertiertes Bewußtsein in Aktion – sind jedenfalls so das ziemliche Gegenteil dessen, worum es beim Yoga geht.

 

Ist auch Yoga nur ein  Hamsterrad?!

 

     Vergaß man das Chanten am Beginn der Stunde, blendete man die Kerzen und immerhin frischen Blumen im Studio aus, die glücksbringende hinduistische Ganesha-Figur (ein Mann mit Elefantenkopf) auf einem Sims, war die unbewußte Aura in jenem Studio kaum anders als in irgendeinem Gym, wo die Besucher eine Maschine nach der anderen abarbeiteten. Die modernen Yogis waren trotz des esoterischen Settings vom Ziel getrieben, die Asanas möglichst gut zu machen, sozusagen yogische Leitung zu erbringen; mit anderen Worten, sie waren völlig unter der Fuchtel des traditionell westlichen Bewußtseins, wo die äußere Beherrschung und nicht die innere Erfahrung einer Sache entscheidend ist.

     Das heißt, Jung hatte Recht mit seiner Warnung, daß „der Westen“,  das abendländisch geprägte Bewußtsein, Yoga tendenziell völlig mißversteht; also aus einem dominant inneren, psychischen Weg einen äußeren, physischen macht, aus spiritueller Erfahrung eine körperliche Technik. Und erschwerenderweise diesen Unterschied überhaupt nicht realisiert, sondern tatsächlich letztlich tiefes Stretching mit tiefer Einsicht verwechselt.

     Für Yoga als Business ist diese Verwechslung und geradezu geniale Vermischung von Mobilitätstraining mit Spiritualität natürlich eine potentielle Goldgrube. Jeder normale Fitness-Coach dürfte vor Neid erblassen. Ich erinnere mich an eine Anekdote über Pattabhi Jois, den verstorben indischen Guru des Ashtanga Yoga, der sich aufgrund der zunehmenden Masse zahlungsbereiter  westlicher Schüler eine Geldzählmaschine angeschafft hatte und zuhause fasziniert davor saß und das stetige Rattern der Scheine beobachtete; ähnlich glücklich wie die Comicfigur Dagobert Duck, wenn er ein Bad in seinem Geldspeicher nahm.
      – So deutlich wie jetzt war mir die Bedeutung des angestrengten Atems  damals nicht klar, weil man mitten in einer Situation meist viel zu wenig Abstand hat, um sie wirklich zu verstehen. Aber ich bekam eine Ahnung davon, daß Yoga genauso ein Hamsterrad sein konnte wie alles andere in diesem Leben. Und eben keine auf den Augenblick und nur auf diesen konzentrierte Praxis.

 

Grüße von Patanjali

 

     Interessant war auch, daß die Schüler und der Lehrer zwar mein völlig unübliches Meditieren – statt Yogaposen zu praktizieren – akzeptierten, aber sie offenbar überhaupt keine echte Beziehung dazu entwickelten. Irgendwie ahnten sie wohl, daß es okay war, schließlich ging es im Ashtanga Yoga gemäß dem zweitausend Jahre alten Klassiker Yoga Sutra“ von Patanjali am Ende um die Fähigkeit zur Meditation. Auch der Lehrer ließ mich kommentarlos in Ruhe.

      Aber daß es mehr als „okay“ war, daß ich eigentlich die Essenz der Sache präsentierte, indem ich mitten im Wirbel der Asanas um mich herum einfach nur dasaß, und meine Wahrnehmung auf Yoga selbst fokussierte, dieser Funke sprang definitiv nicht über. Ich war ein seltsamer Fremdkörper für diese Zeit in diesem Yogastudio, weil die Gruppendynamik Yogaposen vorsah und keine Meditationssession.

 

Jenseits des Krampfes: Die Chance für eine echte Praxis

 

     Dabei machte ich nur das, worum es im traditionellen Yoga wirklich geht: Meine Wahrnehmung zu reinigen und die Dinge versuchen so zu sehen, wie sie wirklich sind. Jungs Einschätzung von Yoga im Westen als „Krampf“ hat sich also einerseits zumindest für mich experimentell bestätigt. Symptomatisch sichtbar sowohl am unfreien Atem der Schüler bei den Yogaposen als auch bei der extrovertierten Überbewertung der Asanas als solchen.

     Andererseits gibt es einen echten Hoffnungsschimmer, den Jung mit dem Gedanken äußerte, daß „der Westen“, also das dominant rationale Bewußtsein, sein eigenes Yoga entwickeln müsse. Was aber als Bedingung den Respekt vor und die versuchte Integrierung des Unbewußten voraussetzt. Was die traditionellen indischen Yogis nicht nötig hatten, da sie sowieso Umgang mit „Göttern“ und „Dämonen“ pflegten. – Dann erst dürfte die Bahn frei sein, auch für das klassische Yoga. Vermutlich noch ein weiter Weg.

     Aber bis dahin ist jede Praxis – sei es Laufen, seien es Asanas, sei es Tanzen, sei es egal was –, die kein blindes Hamsterrad ist, sondern Atemzug für Atemzug den Weg im Auge hat, ein echter Meilenstein für psychische Befreiung.

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