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Silvo Lahtela

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Der „Flow“, die Fitness des Unbewußten

Schlachtensee, Winter, Freestyle-Swim
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Der „Flow“ als temporäre und fragile Einheit mit der Welt: Leichtigkeit, Intensität, Verschmelzung. – Oder keine Angst vor Killerwelsen.
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Wenn es zwischen Körper und Geist funkt

 

     Es gibt die Fitness des Körpers und die Fitness des Geistes. Beide kommen sehr viel seltener zusammen, als man so denkt. Wenn sie sich allerdings vereinen, für meistens nur sehr kurze Momente, kriegt die Gegenwart sofort eine Intensität, die kaum zu beschreiben ist. Darum gehts in diesem Blogbeitrag.

 

Meistens funkt es nicht

 

     „Mens sana in corpore sano“, – ob fokussiert klassisch oder zerstreut digital gebildet, die meisten dürften diesen Satz schon mal gehört haben und für sich im Sinne von: „Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper“ übersetzen. Und den Spruch im gleichen Atemzug mit einem Achselzucken als nicht wirklich überzeugend abtun. Denn jeder kennt in seinem Bekanntenkreis bestimmt Leute oder ist selbst ein solcher Mensch, die zwar körperlich im klassischen Sinn fit sind, zum Beispiel sehr ausdauernd, sehr kräftig oder gelenkig, aber psychisch eher das Kontrastprogramm bieten: ohne Kondition bei Stress, echte Herausforderungen meidend, verkrampft und zwanghaft auf den geringsten Konflikt reagieren.

      Das heißt, körperliches Leistungsvermögen korreliert im realen Leben keineswegs automatisch mit psychischer Gesundheit oder entwickelter Bewußtheit. Sorry, Fitnessfreaks. Übrigens auch nicht umgekehrt: Wer schnell aus der Puste kommt und steif in der Hüfte ist, kann trotzdem ein Psychopath und muß keineswegs ein Genie sein. Sorry, Couchpotatoes. Körper und Geist sind gewiß miteinander verbunden, aber auf eine bisher noch kaum wirklich verstandene Weise. Die Entstehung des Bewußtseins gehört nach wie vor zu den völlig ungelösten Welträtseln.

 

Die alten Römer

 

     Was auch schon die alten Römer ahnten, denn das obige Zitat von Juvenal, ein Satiriker lustigerweise, ist laut Wikipedia aus dem Zusammenhang gerissen und geht eigentlich so: „Man sollte darum beten, daß sich ein gesunder Geist mit einem gesunden Körper verbinden möge.“ („orandum est, ut sit mens sana in corpore sano.“) – „Darum beten“, das klingt doch schon viel realistischer als die oft propagierte, aber selten im Guten sichtbare Einheit von Psyche und Physis.

    Andererseits gibt es auf einer recht alltäglichen Ebene – und Gott sei Dank unabhängig vom Beten (paradoxen Redewendungen kann ich nicht widerstehen)– eine Erfahrung, die genau von dieser Einheit gespeist wird, wo also das Bewußtsein nicht vom Körper abgespalten ist. Es ist das Phänomen, wenn Leute bei dem, was sie gerade machen, „im Flow“ sind. Das kann tatsächlich von der Tätigkeit alles Mögliche sein: Autofahren, Kochen, Musizieren, sogar Abwaschen oder Aufräumen. Und natürlich Sex oder vielleicht als Ausdruck am häufigsten benutzt als Erfahrung beim Laufen.

 

Der aktuelle Stand der Wissenschaft

 

     Der letzte wissenschaftliche Schrei für die Erklärung des sogenannten „Runner‘s High“ ist, daß der Körper ab einer bestimmten Intensität oder Dauer des Laufens sogenannte Endocannabinoide produziert, Moleküle, die die Blut-Hirn-Schranke überwinden und ganz ähnlich wie Cannabis für einen euphorisch rauschhaften Zustand sorgen. Man kann also durch Joggen oder ähnlich kontinuierliche Aktivitäten im wahrsten Sinne des Wortes bekifft werden und eine echte temporäre Bewußtseinsveränderung erfahren. Wobei natürlich trotzdem das Rätsel bleibt, warum der Flow nicht forcierbar ist. Denn genau das ist er nicht; „Moleküle“ allein sind es am Ende offenbar nicht.
     Das ist jetzt nur ein Hinweis, daß die Erfahrung des Flows keine Einbildung ist, sondern schon seit geraumer Zeit mit klassisch wissenschaftlichen Methoden untersucht wird. Leute, die Sport treiben oder eigentlich überhaupt Irgendetwas regelmäßig und intensiv tun, brauchen natürlich keine solche an Menschen und Mäusen verifizierten Studien, sie kennen in der Regel den Flow aus eigener Erfahrung.

 

Der Flow als Gegenpol zum global digitalen Leben

 

     Und genau eine solche möchte ich hier kurz skizzieren. Denn am Ende ist es doch immer das konkrete Detail, das interessant ist und die Augen für ein Thema öffnen oder schließen kann. Vor allem aber ist die Erfahrung des Flows praktisch ein alltäglicher Ausdruck des Spontanen, des Unkontrollierten, – des Unbewußten eigentlich, also dessen, was ein lebendiges und notwendiges Gegengewicht zu unserer hyperdigitalisierten Welt und pseudomäßig durchkalkulierten Welt bildet. Das Unbewußte ist kurzgesagt das, was man nicht googeln, sondern nur erfahren kann. Es liegt jenseits der Apps, jenseits der Computer,  natürlich auch jenseits der Worte, aber diese können zumindest darauf hinweisen. Was ich hier versuche.

 

Das Unforcierbare des Flows und die Verschmelzung mit der Umgebung

 

     Das Besondere beim Flow ist wie gesagt das unberechenbare Element. Flow läßt sich durch Willen (= Bewußtsein) nicht erzwingen. Man kann beispielsweise Kilometer um Kilometer rennen, bis einem die Zunge heraushängt, auch einen ganzen Marathon, ohne daß sich jene magische Mischung aus körperlicher Leichtigkeit und geistiger Präsenz einstellt. Auch Musik über Kopfhörer ist nur eine Krücke dafür. Man taucht dann zwar speziell in den Rhythmus ein, was das Laufen oder andere Tätigkeiten körperlich erleichtern kann, aber die Verschmelzung mit der Umgebung, die ein wesentliches Kennzeichen des Flows ist, findet dadurch nicht statt. Denn durch die Musik wird der reale Weg, der doch das Ziel ist, de facto aus der Wahrnehmung und damit aus dem Bewußtsein ausgeblendet. Wer mit Kopfhörern läuft, sieht in der Regel nicht den Tautropfen auf der Spitze des Grashalmes am Wegesrand. Wer aber wirklich im Flow ist, sieht ihn. Potentiell immer, weil man erstens mit der Umgebung geradezu verschmolzen und zweitens die Wahrnehmung extrem sensibilisiert ist.

 

Training ist notwendig, aber nicht hinreichend

 

     Eine weitere hohe Hürde für das Erlebnis des Flows ist, daß man ihn nicht nur nicht erzwingen kann, sondern daß man auch noch spezifisch trainiert sein muß, um überhaupt eine Chance zu haben. Wer also beispielsweise musikalisch in den Groove (nur ein anderer Ausdruck für das gleiche Phänomen) beim Gitarre- oder Geigespielen kommen möchte, sollte mit dem Instrument gut vertraut sein, das heißt, je nach Begabung sind möglicherweise hunderte von Stunden des Übens die Voraussetzung. Dasselbe gilt natürlich beim Laufen oder bei was auch immer. Wer nach einem Kilometer anfängt zu hecheln, kann den Flow vergessen, – zumindest beim Joggen.

 

„Der Zauber des Anfangs“

 

     Es gibt allerdings eine erstaunliche Ausnahme davon. Ist man absoluter Anfänger auf irgendeinem Gebiet, kann es passieren, daß man sofort in den Sog des Flows gerät, ganz ohne Training, ganz ohne Erfahrung, einfach nur durch den ersten Kontakt. Dieser sehr vergängliche „Zauber des Anfangs“ hat vermutlich damit zu tun, daß man manchmal bei der ersten Berührung sofort mit dem Wesen einer Sache kommuniziert, weil man innerlich noch völlig offen ist. Ich erinnere mich, daß ich einmal, und ich hatte damals noch nie ein Musikinstrument gespielt, als ich bei einer Freundin übernachtete, die ein Klavier neben dem Bett stehen hatte, die ganze Nacht darauf herumspielte, stundenlang. Es klang vermutlich schrecklich, aber nicht für mich, ich ließ mich einfach fasziniert von den Tönen treiben. Als ich später irgendwann einmal eine Stunde Unterricht nahm, war von dieser Leichtigkeit nichts mehr zu spüren und es klang tatsächlich völlig anfängermäßig.

 

Das Mysterium des Flows

 

     Von dieser Ausnahme abgesehen machen jedenfalls die beiden normalerweise gegensätzlichen Pole und Voraussetzungen des Flows – notwendiges Training einerseits und trotzdem Leichtigkeit im selben Atemzug anderseits – verständlich, warum das Phänomen bei aller Bekanntheit dennoch im Kern relativ mysteriös ist. Sowohl wer bis zur Erschöpfung trainiert als auch wer Fitness oder Üben wie die Pest meidet: Beide extremen Haltungen schrammen am Flow vorbei, oft für immer. Und das ist schade, da die Erfahrung des Flows einer der Höhepunkte des menschlichen Alltags ist, war und immer sein wird.

 

Eine konkrete Erfahrung

 

     Damit komme ich zu meiner eigenen und jüngsten Flow-Erfahrung, die vor ein paar Wochen beim Schwimmen im See stattfand. Und die das unkalkulierte und spontane Element des Flows in Aktion zeigt und vielleicht den einen oder anderen dazu inspiriert, diese befreiende Erfahrung öfter zu suchen. Als konkretes Beispiel ist es natürlich sehr subjektiv. Aber es ist meine Überzeugung, daß man wesentliche Dinge nur durch subjektive Verschränkung verstehen und darstellen kann. Abstraktionen, Meinungen, Weisheiten, all solche respektablen Dinge sind um vieles interessanter, wenn sie möglichst nachvollziehbar mit der konkreten Welt verbunden sind. Es besteht sonst immer die Gefahr, daß man einfach nur vom Sog der Ideen hin- und hergerissen, also fanatisch wird. Gegenwärtige Beispiele, wie verwilderte Ideen das Leben vergewaltigen, gibt es genug, – deswegen zurück zum Flow!

 

Schwimmen im Schlachtensee

 

     Das Wasser im Berliner Schlachtensee war um die 15 Grad, was recht frisch ist,
und da ich nicht nur kurz eintauchen, sondern ein bißchen schwimmen wollte, schlüpfte ich am Ufer in einen Neoprenanzug. Nachdem ich den ersten Kälteschock überwunden hatte – das kalte Wasser dringt ja zunächst in das Neopren ein bevor es sich durch die Körpertemperatur erwärmt –, schwamm ich mit ein paar Brustzügen in den See hinein. Ich gewöhnte mein Gesicht an das auf der Haut brennend eisige Wasser, was eine Weile dauerte.
Dabei schaute ich mich auch um; ich sah Schwäne am anderen Ufer entlang schwimmen; vor mir trieb vereinzelt Herbstlaub; ich beobachtete die kleinen Luftbläschen, die meine Hände unter Wasser erzeugten. Ich schaute über den See zum Ufer zu den Schwänen, von dort ging mein Blick die Bäume zu den Kronen hoch und verlor sich in den grauen Wolken am Himmel. Es war sehr friedlich, kein Gedränge von Schwimmern wie oft im Pool; am Ufer hörte ich kurz einen Mann aufstöhnen, der nackt und mutig ins Wasser ging. Ein paar Enten landeten in meiner Nähe, aber beachteten mich nicht weiter. Natur ohne Kitsch.

 

Freundschaft mit „Killerwelsen“

 

     Ich hatte mir am späten Abend zuvor im Internet Bilder von „Killerwelsen“ im Schlachtensee angesehen, zweieinhalb Meter große Fische, die mit aufgerissenem Maul problemlos Enten und Dackel verschlucken konnten und es manchmal auch taten. Ein Schwimmer hatte von einer Begegnung berichtet, wo ein Wels ihn versucht hatte, am Fuß hinunter in die Tiefe zu ziehen. Eine siebzehn Zentimeter lange Wunde war das Andenken. Aber all diese Berichte, die mir am nächtlichen Computer etwas beängstigend erschienen waren, verloren in der idyllischen Kälte des Wassers jegliche bedrohliche Aura. Ich hatte das Gefühl, im Einklang mit dem See zu sein, und fühlte eher Freundschaft statt Angst gegenüber seinen Bewohnern.
     Als mein Gesicht sich an das kalte Wasser adaptiert hatte – es brannte nicht mehr und war angenehm frisch auf der Haut –, wechselte ich zum Kraulen und pflügte eine Weile durch den windstillen Schlachtensee. Da man beim Kraulen das Gesicht bis auf das Luftholen immer im Wasser hat, sieht man nicht allzuviel. Beziehungsweise, ich sah durch meine Schwimmbrille immer nur ein paar Meter in die Tiefe, wo manchmal kleine Fischchen schwammen. Aber immer dann, wenn ich zum Einatmen mit dem Kopf zur Seite rotierte, sah ich links kurz die nahe Uferlinie mit Gebüsch und Bäumen oder atmete ich nach rechts, sah ich den sich ausbreitenden See und den bewölkten Himmel darüber. Es war wie ein kurzes Aufscheinen der Welt jenseits des Wassers.

 

Die Trinität des Flows

 

     Und da passierte es: Für vielleicht eine Minute, vielleicht sogar weniger, denn ich hatte mein Zeitgefühl verloren, verschmolz ich völlig mit der Umgebung, von Kopf bis Fuß vitalisiert. Ich war Teil des Sees, gehörte dazu wie der kleinste Barsch oder der unheimlichste Killerwels, ich war der vermoderte Ast auf dem Grund, ich war das Spiegelbild der Bäume auf der Oberfläche, ich war der Schwan am anderen Ufer, ich war das Wasser und ich war sogar ich selbst.
     Anders als leicht hymnisch läßt sich diese Erfahrung kaum beschreiben. Und obwohl ich keineswegs der perfekt austrainierte Schwimmer bin, hatte ich mich für diese kurze Zeit ohne jede gefühlte Anstrengung trotz der Kälte durchs Wasser bewegt. Leichtigkeit der Bewegung, Intensität der Wahrnehmung, Verschmelzung mit der Umgebung. Die Trinität des Flows, jenseits der Kontrolle des Bewußtseins, hatte stattgefunden.

 

Das Risiko der Hingabe, der Flow als Jungbrunnen

 

     Als ich dann aus dem Wasser stieg und mich aus dem Neoprenanzug schälte, war der Flow zwar schnell nur noch Erinnerung, aber zumindest das war er. Er war passiert. Und er kann sich überall manifestieren, bei jeder Sache; die für jeden unterschiedlich sein dürfte. Die einzige Bedingung ist, daß man sich dem, was man gerade tut, völlig hingibt. Der Flow setzt also, wie alle guten Dinge, etwas Mut zum Risiko voraus. Aber ereignet er sich, ist es ein physischer und psychischer Jungbrunnen, den weder der Körper noch der Geist jemals vergißt. – PS: Und nein, man muß dafür nicht in den herbstkalten Berliner Schlachtensee steigen, es gibt unendlich viele andere Möglichkeiten. 😉

6 Responses

  1. Sehr schön. Als ich noch joggte, kannte ich diese Erfahrung beim Joggen: nicht zweite, sondern dritter Wind, bei dem ich hätte EWIG weiterrennen ohne müde zu werden, musste aber wegen Termine irgendwann aufhören.

  2. Eine brillante und sehr anregende Darstellung, die sich vermutlich mit den Alltagserfahrungen vieler deckt, obwohl sie – wie ich – nie so tief in das Thema eingedrungen und keinen Killerwelsen begegnet sind.
    Ein Gedankenspiel drängt sich mir unwillkürlich auf. Geraten Mörder und andere armselige Kreaturen bei ihren Schandtaten genauso in den „Flow“? – Why not! Da wünschte man sich für sie (nicht nur für sie) eine Art „Flow-Therapie“.
    Übrigens Silvo – gibt’s für Dich den Flow genauso beim Schachspielen?
    Heute lädt die Sonne zu einer erwärmenden oder zumindest aufmunternden Flow-Begegnung ein. Cheers, Arno.

    1. Merci! – Im Haß- oder Blutrausch ist man der Umwelt völlig entfremdet, in einer aggressiven, nicht harmonischen Beziehung zu ihr. Deswegen ist man als Killer niemals im authentischen Flow, sondern im subjektiven psychopathischen Wahn.
      – Im Schach bin ich nur im Flow, wenn mir Verlieren egal ist. Also sehr selten 🤪

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