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Silvo Lahtela

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Snacken als Sucht

Walderdbeere mit Sahne
Was Snacken als auf den ersten Blick harmlose Gewohnheit über die Psyche der globalen Gesellschaft aussagt.
Monatliches Blog-Update

Eine Statue unserer Gegenwart

 

     Am Times Square in New York steht seit kurzem vom Bildhauer Thomas J. Price die fast vier Meter hohe Bronzestatue einer schwarzen Frau. Von der überdimensionalen Größe abgesehen und der sehr selbstbewußten Körperhaltung – die Hände lässig und die Umgebung beobachtend in die Hüften gestemmt –, ist das Besondere an der Gestalt, daß an ihr nichts wirklich Besonderes ist. Der Blick ist weder aggressiv noch freundlich, die Kleidung ist unauffällig. Es ist eine junge Frau, die einem überall auf der Welt, abgesehen von frauenverachtenden  Ländern, über den Weg laufen könnte.
     Spontan bin ich ein Fan, da ich jede Kunst, die sich einen realistischen Ansatz bewahrt hat, als einen echten Lichtblick im gegenwärtigen medialen Schattenreich empfinde, wo die neurotische Verzerrung der Wirklichkeit Trumpf ist.

 

Auch körperlich ein Spiegel der Zeit

 

     Auch die körperliche Statur ist typisch für die gegenwärtige Zeit: Die Taille ist durch Bauchfett kaum ausgeprägt, die Oberschenkel sind in Relation zum Rest des Köpers recht massiv. Womit ich beim Thema des Blogs angelangt bin: Zumindest leichtes Übergewicht ist epidemisch überall und quer durch die gesellschaftlichen Schichten präsent. Während in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts selbst Leute, die nur kleine Speckringe um die Hüften hatten, im Volksmund schon als „fett“ galten, ist dies heute praktisch normal und erst extreme Adipositas, wenn vielleicht der Gartenstuhl sich beim Hineinsetzen tief in den Rasen bohrt oder sogar unter dem Gewicht zusammenbricht, gilt als auffällig.

 

Übergewicht und das Parallelphänomen Snacken

 

     Übergewicht, ob weniger oder mehr, ist inzwischen sogar derart verbreitet, daß diesen Zustand überhaupt zu erwähnen, mit dem Begriff des „Bodyshaming“ in die Nähe von Beleidigung, zumindest aber tendenziell von Diskriminierung aufgrund des Äußeren gerückt wird. Deswegen gleich am Anfang der Hinweis, daß „übergewichtig“ hier immer im beschreibenden, nicht abwertenden Sinn gebraucht wird.
     Und keine Angst, ich werde nicht den tausendsten Aufguß irgendwelcher Diäten reproduzieren. Mir ist völlig bewußt, daß über Eßgewohnheiten zu schreiben, heutzutage ein Minenfeld zu betreten bedeutet: Jede Variante hat ihre oft fanatischen Verfechter. Stattdessen geht es mir um die psychologische Bedeutung eines Phänomens, das zweifelsfrei Übergewicht begünstigt, aber meistens nur im Vorübergehen gewürdigt oder beachtet wird: Snacken.

 

Der Essensrhythmus vor  fünfzig Jahren

 

     Noch Ende der siebziger Jahre, also nur zwei Generationen zurück, evolutionsgeschichtlich keine Zeit, war es relativ normal, nur drei Mahlzeiten am Tag einzunehmen: Frühstück, Mittag, Abendbrot;  oder wie man heute als durchs Internet oft englisch sozialisierter Mensch sagen würde: breakfast, lunch, dinner. Das wars damals an Mahlzeiten, mehr oder weniger nichts dazwischen.
     Die Supermärkte waren um 18 Uhr zu, Tankstellen verkauften noch hauptsächlich Benzin und kein Sammelsurium an überteuerten Getränken und Süßigkeiten; es gab Nachtapotheken, aber keine Spätis. In der Innenstadt und an Hotspots hatten höchstens noch einige Imbißbuden oder sehr rare Selbstbedienungsrestaurants wie etwa der in Berlin damals berühmte „Athener Grill“ auch mitten in der Nacht geöffnet. Aber das waren Ausnahmen.
     Mit anderen Worten, der Rhythmus des Alltags bestand nicht darin, dauernd Essen konsumieren zu müssen oder es zu können. Niemand jammerte oder starb über Nacht, weil keine Schokolade, Döner oder Pizza in Reichweite waren. Und die Leute in Europa – ob in Berlin, Helsinki, Málaga, Paris, Orte, wo ich mich damals herumtrieb –, waren alle im Durchschnitt relativ schlank, selbst ein kleines Bäuchlein fiel noch auf und war kein Massenphänomen wie heutzutage.

 

Snacken und Insulin

 

     Natürlich hat die weltweit ungesunde Gewichtszunahme viele Gründe, aber als kleine Info, warum auch Snacken dazu beiträgt, die  laienhafte Kurzfassung: Snacken, auch in kleinsten Mengen, schüttet Insulin aus, das Hormon, das dafür zuständig ist, daß Nahrung als Fett gespeichert wird, statt daß umgekehrt Körperfett als Energiequelle benutzt wird. Entweder das eine oder das andere. Dieser Mechanismus hat nichts mit Willenskraft zu tun, sondern wird autonom gesteuert wie Atmen oder der Herzschlag.
     (Wer mehr darüber  wissen will, dem sei beispielsweise dieses „Snack“-Video von Dr. Jason Fung empfohlen. Oder wer seriös in die Materie einsteigen und sich informieren möchte, was jenseits der weitverbreiteten Klischees wirklich für das globale Phänomen von Übergewicht verantwortlich ist, schaue sich diesen Vortrag von ihm an. Ein bißchen Konzentration ist zwar nötig, aber es lohnt sich.)

 

Die intuitive Weisheit vergangener Generationen

 

     Anders ausgedrückt, wenn man regelmäßig snackt – egal was, ob vegane Reiswaffeln oder mit Gelatine umhüllte Gummibärchen, ob Sushi oder Eiscreme –, ist durch das aktivierte Insulin Abnehmen ausgeschlossen und Gewichtszunahme wahrscheinlich. Getränke wie Bier oder Wein und natürlich Limonaden sind  ernährungsmäßig übrigens durch den Zuckeranteil auch hundertprozentige „Snacks“, was vielen Leuten nicht wirklich bewußt ist. Man kann sich also nicht schlank saufen, eher im Gegenteil.
     Dieser hormonell gesteuerte und völlig natürliche Prozeß läßt sich nicht austricksen und war in der Bevölkerung bis in die siebziger Jahre hinein noch intuitives Allgemeinwissen. Wenn Kinder beispielsweise mittags nicht aufaßen, weil es ihnen vielleicht nicht schmeckte, bekamen sie trotzdem erst am Abend wieder etwas. Und nicht etwa zwischendurch noch ein Brot oder eine Bratwurst oder Kuchen. Höchstens sonntags vielleicht. Darüber wurde nicht diskutiert. Deswegen aßen die meisten Kinder, inklusive der Erwachsenen, schließlich am Ende auch alles, was auf den Tisch kam.

 

Das hysterische Eßverhalten der Gegenwart

 

     Zeitsprung zu heute: Überall und immerzu, Tag und Nacht sieht man Leute essen. In der U-Bahn, im Auto, beim Gehen auf der Straße und Sitzen auf der Parkbank, am Computer, auf der Wiese und im Büro. Obwohl Snacken gesundheitlich, körperästhetisch, sogar finanziell objektive Nachteile bringt (zumindest für die Konsumenten, nicht für die Hersteller natürlich), es zudem evolutionsmäßig nicht artgerecht ist – der Mensch ist weder eine Kuh noch ein Pandabär, der ununterbrochen fressen muß, sei es Gras oder Bambus oder gar Schokoriegel –, ist es seit Jahrzehnten dennoch voll im Trend. Was darauf hinweist, daß die Ursache dieses modernen und gestörten Eßverhaltens eher  psychologischer als biologischer Natur ist.

 

Die Psychologie des Snackens

 

     Ich gehe jetzt nicht auf den physiologischen Teufelskreis ein, der durch Snacken auch ausgelöst werden kann: Der Körper hat sich auf stetige Energiezufuhr adaptiert (sehr oft essen) und greift deswegen nicht mehr automatisch und natürlich auf Fettreserven zu, wenn Bedarf besteht, so daß das Phänomen beispielsweise der „Unterzuckerung“ bei diabetischen Personen auftaucht, wenn sie länger nichts gegessen haben. Sie fangen an zu zittern usw.
     Aber bei Leuten, die im Kern gesund sind, wohl noch die Mehrheit, scheint Snacken eher eine psychologische Übersprunghandlung zu sein: Der schnelle Kick zwischendurch, das kleine Glück aus dem Supermarkt, kostet wenig und befriedigt kurz. Ich selbst gehörte lange Zeit zu diesen Snacksüchtigen, deswegen fühle ich mich auch berechtigt, darüber kritisch zu schreiben. Was ja auch das Prinzip dieses Blogs ist: Nicht von oben herab, sondern von mittendrin.

 

Neurose in action, ein Beispiel

 

     – Wenn ich beispielsweise im Internet Schach gespielt und eine Partie verloren hatte, bin ich tatsächlich sehr oft automatisch zum Kühlschrank gegangen und habe geschaut, was es dort Leckeres gibt. Ich habe dann zwar nicht immer was genascht, aber geöffnet habe ich die Kühlschranktür im ersten Impuls trotzdem fast immer. Da im Schach Gewinn und Verlust sich bei mir ungefähr die Waage halten, das Problem also nicht schachlich lösbar war – im Unterschied zum vermutlich besten Schachspieler aller Zeiten Magnus Carlsen, der möglicherweise verhungern würde, wenn er nur bei Verlust essen würde –, bin ich erst dann auf mein Wunschgewicht gekommen, als ich diese Gewohnheit radikal beendet hatte. Also die Gewohnheit, sich mit Essen entweder zu trösten oder zu belohnen oder sogar zu betäuben.

 

Die Parallele von Snacken und Drogenkonsum

 

       Und genau das, ganz ähnlich wie bei Alkohol, Marihuana und anderen Drogen, scheint mir die Essenz der gegenwärtigen Snackkultur zu sein: Obwohl man keinen echten Hunger hat, „nascht“ man ein Stück Kuchen, eine Scheibe Brot, eine Tafel Schokolade, ganz ähnlich wie ein Raucher sich eine Zigarette anzündet oder ein Alkoholiker die nächste Bierflasche aufploppen läßt. Und man fühlt sich gleich etwas besser. Wobei aus einer Chipstüte schnell zwei werden, so wie eine Packung Zigaretten am Tag nicht mehr ganz reicht und es auch beim Bier irgendwann eher ein Sixpack sein sollte statt nur ein oder zwei bescheidene Dosen.

 

Steigern oder Beenden

 

     Das Wesen der Sucht ist immer die Steigerung, weil die Droge ja kein Bedürfnis wirklich befriedigt, sondern nur eine Scheinlösung offeriert; die, um noch zu wirken, nach immer größerer Dosierung verlangt. Beispielsweise ging ich ja damals NICHT zum Kühlschrank, wenn ich gewonnen hatte. Das heißt, ich snackte, um den Verlust der Partie sozusagen besser verdauen, beziehungsweise verdrängen zu können.
     In dem Moment dann, wo ich radikal mit Snacken aufhörte, also auch dann, wenn ich eine Schachpartie verlor, konnte ich mich mit dem wirklichen Problem beschäftigen: Was Verlieren für mich eigentlich bedeutete. Beispielsweise Kränkung des Egos und solche Dinge. Und schon brauchte ich weder einen Biß in den Apfel noch eine Scheibe Brot mit Käse. Ich brauchte überhaupt keinen Snack mehr, weil ich mich mit dem wirklichen Problem auseindersetzte: im Schach schlecht verlieren zu können. Äußerlich sah man mir das zwar nicht an, aber innerlich kochte ich oft.

 

Snacken als aktuelles Symptom der allgemeinen Realitätsverleugnung

 

      Natürlich sollte man nie von sich auf andere schließen. Aber wenn man grundsätzlich davon ausgeht, daß jede Sucht auf spezifischer Realitätsverdrängung basiert und man weiter davon ausgeht, daß wir gegenwärtig in einer Zeit leben, in der Realitätsverleugnung gesellschaftlicher Mainstream in Deutschland ist (Wahl des eigenen Geschlechts nach Gefühl; „Messerverbotszonen“ als Lösung vor hyperaggressiven und fanatischen Zeitgenossen; der propagierte nahe Weltuntergang durch das Weltklima usw.)  –  dann ist es eigentlich logisch, daß auch alle Arten von Süchten zunehmen. Snacken ist zwar vergleichsweise harmlos, da es immerhin keine halluzinatorischen Wahnvorstellungen wie andere Drogen auslöst, sondern im Prinzip zunächst nur den Bodymass-Index nach oben verschiebt; aber es ist insofern Symptom einer echten Neurose, weil es dazu beiträgt, Probleme nicht anzupacken, sondern gleichsam wegzuknabbern. Was natürlich nicht funktioniert.

 

Die akzeptierende Avantgarde

 

     Auch in dieser Hinsicht erfüllt die Statue am Times Square in New York das Kriterium echter Kunst: Sie zuckt vor der Welt nicht zurück, sondern zeigt sie, wie sie wirklich ist. Ein bißchen Speck um die Hüfte inklusive. Ein nüchterner, aber auch  akzeptierender  Blick, der  heutzutage, wo möglichst viel subjektive Verzerrung schon  als genial gilt,  praktisch authentische  Avantgarde bedeutet.

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