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Silvo Lahtela

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Warum ich Yoga mache

camel-pose
Das moderne globale Yoga als vertane oder genutze Chance für eine klare und angstlose Wahrnehmung der Welt und von sich selbst.
Monatliches Blog-Update

 

Etwas fehlte

 

     Meine erste Yogaklasse vor einem guten Dutzend Jahren hätte auch leicht meine Letzte sein können. Ich war in dem Yoga Studio in Berlin-Mitte gelandet, weil mir meine jahrzehntelange Aikido-Praxis von der Community und auch vom Training her wie eine soziale und körperliche Sackgasse vorkam. Irgendwas fehlte mir bei der Kampfkunst Aikido, aber ich wußte nicht genau, was.

 

Unbefriedigende Alternativen

 

     Laufen hatte ich als Alternative eine Weile probiert, sogar in der freakigen Barfuß-Variante, aber es funkte jenseits der Fitneß nicht wirklich. Im Zweifelsfall fand ich Spazierengehen cooler als „Cardio“. Gyms hatte ich auch besucht, ich war jahrelang bei „Kieser“ Mitglied gewesen, meine Knieprobleme durch Überbelastung vom Aikido verschwanden durch den Muskulaturaufbau. Auch wenn ich dort speziell die futuristischen Duschkabinen aus Edelstahl wirklich sehr mochte, am Ende wurde ich nicht wirklich warm damit, mich dreimal wöchentlich in verschiedene Maschinen zu setzen. Es war zwar muskulär effektiv, aber es hatte für mich auch eine Zombie-Komponente: halb Mensch halb Maschine zu sein.
     Von Kettlebells hatte ich damals noch nichts gehört. Gott sei dank, denn dann wäre ich möglicherweise niemals beim Yoga gelandet, da Kettlebells sowohl Kraft als auch Kondition als auch Mobilität – die heilige Trinität der allgemeinen Fitneß – trainieren. Nur ein Minimum an Equipment erforderlich, ein oder zwei oder drei Eisenkugeln und man ist zudem unabhängig von Studios. Weder Maschinen, noch Laufen, noch Yoga (als Stretching) hätten damals da mithalten können, weil ich auf der Suche nach einer passenden Fitneßvariante und nicht nach irgendwelchen spirituellen oder bewußtseinsverändernden Erleuchtungen war.

 

Ashtanga Yoga  in Berlin-Mitte

 

     Yoga war nie besonders auf meinem Radar gewesen, weil ich damit nur Gymnastik mit einem Touch Esoterik assoziierte, was mich beides nicht faszinierte. Da ich aber damals nicht weiterwußte, aber als Autor unbedingt körperlich aktiv bleiben wollte – körperliches Training schien mir als Balance wesentlich zum Schreiben zu sein, viel wesentlicher als Bestseller zu produzieren beispielsweise –, beschloß ich, Yoga eine Chance zu geben.
     Das Studio in Berlin Mitte, wo ich also dann eines Mittags neugierig aufkreuzte, hatte ich ausgewählt, weil der dort praktizierte Yoga Stil – Ashtanga – von meinen Youtube-Recherchen her körperlich herausfordernd schien. Wenn schon Yoga, dachte ich, dann gleich richtig und nicht zu weichgespült. Außerdem mochte ich die Farben der Homepage, viele Orange- und Gelbtöne. Wie sehr kompromißlos dieser Stil allerdings war, erlebte ich gleich in der ersten Stunde: Schon bei den Warm-up-Sonnengrüßen geriet ich stark ins Schwitzen und fühlte mich nicht nur, sondern war auch steif wie ein Brett.

 

Tiger und Robben

 

     Meine jahrelange Aikidopraxis mit Würfen und Hebeln und Rollen hatte offenbar kaum positiven Einfluß auf die Ausübung von Asanas, Yogahaltungen. Mir war zwar die Sportlerweisheit bekannt, daß Trainiertheit in einer bestimmten Aktivität nicht direkt übertragbar war, daß also ein guter Läufer nicht unbedingt ein guter Schwimmer oder Fußballer ist; aber daß selbst bei Yoga, das ich nicht mit Kraft und Kondition assoziierte, sofort die Grenzen meiner Fitneß deutlich wurden, war ernüchternd.
     Als ich mich umschaute, was die anderen so auf ihren Matten trieben, jeder praktizierte im eigenen Rhythmus eine mir mysteriöse Abfolge von Posen, war es beeindruckend: In der Mehrheit schlanke, aber trotzdem offenbar recht kräftige Männer und Frauen glitten einschüchternd elegant von einer Asana in die nächste. Ich kam mir bewegungsmäßig wie eine Robbe unter Tigern vor, nicht im Wasser natürlich, sondern auf Land.

 

Chanten auf Sanskrit als Gehirnwäsche?

 

     Als allerdings der Lehrer die Stunde kurz unterbrach und alle anfingen, auf Sanskrit ein paar Minuten zu chanten, eingerahmt am Anfang und Ende von langgezogenen „Om’s“, war ich unangenehm berührt. Ich verstand die Worte selbstverständlich nicht, aber auch wenn ich sie verstehen würde, war ich mir keineswegs sicher, ob sie mir gefallen würden. Vor allem realisierte ich, daß es offenbar ein übliches Ritual war und der Text für die meisten sowieso keine Rolle spielte, – und das nervte mich noch mehr. Als Autor sang ich nicht einfach irgendwelche Strophen nach, in keiner Sprache. Mit blind nachvollzogenen Ritualen fing jede Gehirnwäsche an, so mein spontaner erster Eindruck.

 

C.G. Jungs Kritik an Yoga „im Westen“

 

     Was ich insgeheim befürchtet hatte, daß es sich bei Yoga um spirituell überhöhte Gymnastik handelte, schien sich zu bewahrheiten. Kommerziell zwar clever, aber für einen geschulten Geist war es auch erkennbar manipulativ, mit einer exotischen Sprache Vorwärts- und Rückbeugen, Twists und Inversionen und so weiter esoterisch zu weihen. Ein normaler Fitneßtrainer dürfte angesichts einer solchen chantenden Yogaklasse vor Neid erblassen: Jeder Atemzug, jede Dehnung potentiell eine Offenbarung, Grüße vom Universum inklusive, da zahlt man gerne ein paar Euros mehr für.
     Es schien mir damals, als sei der von C. G. Jung vor knapp neunzig Jahren geschriebene und sehr kritische Aufsatz: „Yoga und der Westen“, prophetisch aktuell. In diesem wenig bekannten Text macht er einleitenderweise das ganz große historische Faß auf.

 

Ein historischer Panoramblick

 

     Ich gehe kurz auf diesen Text ein, weil er einerseits hilft, den schon sehr lange anhaltenden Yogaboom aus der geistigen Vogelperspektive einzuordnen. Aber auch deswegen, weil er die Grenze des Verständnisses von Leuten zeigt, auch von Jung selbst, die am Ende des Tages Yoga nicht als Praxis, sondern hauptsächlich als Vorstellung erfahren haben. Dazu komme ich dann gleich. Aber zuerst Jungs Panoramablick:
     Weil im Westen seit der Renaissance Religion und Wissenschaft mehr oder weniger anfingen, in Scheidung zu leben, die Zeit der „Weltentdeckung im geographischen und naturwissenschaftlichen Sinne“ angebrochen war, verloren die Kirchen ihren kulturellen Einfluß. Der Protestantismus in all seinen zersplitterten Varianten war eine Folge dieses Autoritätsverlustes, da nicht mehr die offizielle römische Kirche als wesentliche Vermittlerin des göttlichen Heils angesehen wurde, sondern plötzlich der einzelne Mensch selbst in spiritueller Verantwortung stand. Ohne die offiziellen Rituale der Beichte und Buße und der Absolution mußte jeder aus dem protestantischen Spektrum selbst sehen, wie er seinen Weg zu Gott oder sonstig Transzendentem oder einfach nur Lebenssinn fand.
     Die aufblühenden Wissenschaften boten keine Antworten auf das brachliegende transzendente Bedürfnis der Menschen, sondern verschwanden gleichsam in den Blasen ihrer jeweiligen Fachgebiete, meistens explizit desinteressiert an „metaphysischen“ Fragestellungen.

 

Die „seelische Anarchie“ der Moderne

 

     Genau an diese fehlende spirituelle Orientierung der meisten westlichen Zeitgenossen, die Jung als „seelische Anarchie“ beschreibt, dockte die Entdeckung von Yoga schon vor über hundert Jahren im Westen an. Plötzlich gab es ein System, speziell das körperorientierte Hatha Yoga, das einerseits den aufgeklärten Standards von experimenteller Wissenschaft zu genügen schien, sozusagen wortwörtlich Hand und Fuß hatte, andererseits aber, im Unterschied zu profaner Gymnastik und Fitneß, den eigenen Atem mit dem Spin und Impuls des Universums, sei dieses nun Gott, Vishnu oder ein Hologramm genannt, synchronisierte. Transzendenter und spiritueller ging und geht eine trotzdem sehr körperliche Praxis kaum. Für moderne und verlorene Seelen war diese Kombination aus sichtbarer Physis, die unsichtbare Spiritualität spiegelte, extrem verführerisch.

 

Das moderne globale Yoga

 

     Allerdings und das war Jungs immer noch recht aktueller Kritikpunkt schon vor knapp 90 Jahren gewesen, wurde dadurch die tiefe und neurotische Spaltung im westlichen Denken – nämlich entweder zu glauben oder zu wissen, also Religion und Naturwissenschaft als Gegensatz zu sehen – keineswegs überwunden. (Anmerkung dazu: Für Jung ist es durchaus vorstellbar, etwas zu wissen und gleichzeitig auch etwas zu glauben. „Zwischen diesen beiden Dingen braucht überhaupt kein Konfliktgrund zu liegen. Allerdings sind beide zusammen nötig, denn das Wissen allein wie der Glauben allein, sind stets ungenügend.“)

     Sondern, so Jungs Ansicht, Yoga wurde und wird entweder als körperliche „Technik“ vom abendländisch geprägten Geist assimiliert, im Sinne also von Meditation zum Stressabbau oder für allgemeine Fitneß beispielsweise. Oder aber Yoga wurde und wird als exotische Ersatzreligion überhöht, dergestalt, daß man als „Westler“ mit Sanskrit-Begriffen wie „Samadhi“ und „Purusha“ und Ähnliches um sich wirft, ohne aufgrund fehlender verinnerlichter Tradition wirklich zu verstehen, von was man da eigentlich redet. Angelesene Weisheiten, aber vom Herzen unverstanden, allerdings mit dem Reiz des Neuen ausgestattet. „Aber von jener dem Yoga eigentümlichen Einheit und Ganzheit des Wesens findet sich keine Spur. Der Inder kann weder den Körper noch den Geist vergessen, der Europäer vergißt immer das eine oder das andere.“

 

Die moderne Ortlosigkeit von Kultur

 

     Statt „Inder“ und „Europäer“ müßte man heute natürlich, weil die geographischen Grenzen durch das Internet informationsmäßig völlig aufgeweicht worden sind, die geistige Welt der Menschen im Prinzip nicht mehr über den lokalen Standort definiert werden kann, eher von „authentischen“ oder „sogenannten“ Yogis sprechen. Diese moderne Ortlosigkeit von Kultur, realisiert durch die globale digitale Kommunikationstechnologie, ändert aber im Prinzip nichts an der jeweils geistigen Konstitution des historisch geprägten Menschen: Die Spaltung zwischen Spiritualität und Wissenschaft, alltäglicher zwischen Geist und Körper, zwischen Vorstellung und Wirklichkeit ist nach wie vor Standard im Bewußtsein des typischen Zeitgenossen.

 

Katzen sind keine Yogis

 

     Obwohl also damals das moderne globale Yoga noch in den Kinderschuhen steckte, sich weder in Zürich noch in New York Yoga-Studios wie Pilze im Herbst ausbreiteten, hatte Jung recht klar realisiert, was heute von Puristen als „kommerzielles“ Yoga, als Gymnastik für Wohlhabende abgewertet wird. Allerdings hatte er zusätzlich erkannt, eine geistige Umdrehung weiter als die meisten, daß gerade auch diese Puristen oft keinen Schimmer hatten, beziehungsweise mit den Scheuklappen des westlichen Rationalismus, der die Welt von außen betrachtete, Yoga versuchten zu verstehen.

     Was unmöglich ist, das hatte Jung als zwar westlich geprägter, aber nicht dem Rationalismus ausgelieferter Wissenschaftler, sofort und vermutlich intuitiv realisiert. Weil Yoga ein introvertierter Bewußtseinsprozeß ist, der auch wesentlich von der Psyche her, Integration des Unbewußten inklusive, zu verstehen ist. Asanas, also Körperhaltungen, sind so gesehen eine geistige Falle für das eingefleischte westlich wissenschaftliche und generell extrovertierte Bewußtsein, da sie den Fokus automatisch auf das Äußere, statt auf das Innere lenken.

     Wer sich also beispielsweise  aus dem Stand komplett rückwärts zum „Rad“ („Urdha Dhanurasana“) beugen kann, vielleicht sogar dabei mit den Händen nah an den Füßen, was physisch durchaus beeindruckend ist, gerät beim Yoga in Gefahr, sich für spirituell fortgeschrittener zu halten als er oder sie ist. Jede Katze beim morgendlichen Stretching oder die beim Fallen aus dem dritten Stock einen kleinen Salto rückwärts einlegt, bevor sie sicher auf allen vieren landet, wäre, wenn Gelenkigkeit sich positiv proportional zur Erleuchtung verhalten würde, deutlich spiritueller als jeder Mensch. Gut, es gibt natürlich auch Leute, die genau das behaupten.

 

Karikaturen von Yoga als Fitneß oder Esoterik

 

     Jung aber eher nicht. – Jedenfalls, in einem kulturellen Sinn sah er den „westlichen“ Menschen im Unterschied zum „östlichen“ als sowieso so sehr vom Unbewußten und damit Lebendigen abgespalten, daß jede Disziplinierung des Bewußtseins, wie sie Yoga propagierte, zu einer weiteren  chronischen Verdrängung des Unbewußten führen würde. Womit in Jungs Welt eine Heilung von Neurosen und Psychosen ausgeschlossen war, die ja genau den Kontakt mit unbewußten Prozessen brauchte. Während die östliche Mentalität nach Jung das Unbewußte  grundsätzlich schon als Faktor integriert hatte und  also die eigene Psyche viel besser kannte als der typisch westliche Zeitgenosse.

     In seinen schönen und immer noch aktuellen Worten: „Meist ist das Bewußtsein (des westlich-rationalen Menschen) von krampfhafter Intensität und Beschränktheit und darf daher nicht noch mehr betont werden“. (Hervorhebung im Original von Jung selbst).

     Jung realisierte zwar die Karikatur von Yoga sowohl als Fitneßvariante als auch als erschwingliche Esoterik für geistig Untrainierte sofort. Aber in gewißer Weise sah er den Wald vor lauter Bäumen nicht. Obwohl er die ganzheitliche Philosophie des Yoga als konträr zur detailbesessenen wissenschaftlichen Rationalität erkannte (Ganzheit ist in moderner Erkenntnistheorie nur eine Hypothese, keine unwiderlegbare Realität), hat er offensichtlich nicht die Erfahrung gemacht – also zumindest eine Weile lang täglich die Yogamatte ausgerollt –, daß Yoga eben über die stetige Praxis jede Theorie, jede Philosophie, jeden Diskurs transzendiert.

      Und dies nicht als esoterischer und sehr beliebter Taschenspielertrick, mit dem man natürlich jede Kritik an was auch immer abwürgen könnte, sondern als grundlegende Erfahrung, auf die Worte zwar hinweisen, die aber niemals die Erfahrung ersetzen können. „Der Finger, der auf den Mond zeigt, ist nicht der Mond“, dieses bekannte buddhistische Gleichnis trifft speziell auch auf Yoga zu. Über Yoga zu reden, ohne es zu praktizieren, führt automatisch zu krassen Mißverständnissen, völlig unabhängig vom Intelligenzquotienten oder Bildungslevel.

 

Einstein oder die Äquivalenz von Atem und Bewußtsein

 

     Das heißt, daß Yoga nur theoretisch betrachtet überhaupt nicht verstehbar ist, weil es vom Ansatz her immer eine Praxis beinhaltet, ohne die alle schön klingenden Sanskrit-Wörter als bedeutungslos in sich zusammenfallen. Das ist ähnlich wie mit Musik: Noten und Harmonielehre sind sicher hilfreich fürs Verständnis von Songs. Aber ohne gehörten oder erzeugten Sound als erlebten Hintergrund wäre jede Musiktheorie recht sinnlos.

     Die im Yoga immer wieder betonte direkte Verbindung von Körper und Geist über den Atem, um zum konkreten Kern zu kommen, ist auch als Hypothese eigentlich ein absoluter Kracher, da sie die Äquivalenz von Atem und Bewußtsein behauptet, – gar nicht so unähnlich von Einsteins berühmter Formel E=mc2 , die die Äquivalenz von Masse und Energie beschreibt. Aber es ist eben nicht die Hypothese, die wichtig ist, sondern die gemachte und persönliche Erfahrung davon.

 

Praxis trennt im Yoga die Spreu vom Weizen

 

     Genau das übersah Jung, der sogar explizit davor warnte, Yoga statt nur zu studieren, zu praktizieren. Weil er den rein intellektuellen Zugang nicht verließ, warnte er praktisch genau vor der Essenz dessen, was er zu beschreiben versuchte. So konnte er die Karikaturen von Yoga zwar aufdecken, aber nicht dem Original gerecht werden.
      Mit dieser selbst gemachten Erfahrung, daß der Zustand des Atems dem des Bewußtseins synchron läuft – simples Beispiel: wer aufgewühlt ist, atmet schneller, unruhiger –, trennt sich yogamäßig die Spreu vom Weizen. Plötzlich realisiert man, daß man auch umgekehrt das Bewußtsein über den Atem steuern kann. Und zwar immer und überall. Was eine ziemlich krasse Fähigkeit ist, wenn man länger darüber nachdenkt.

 

Eine Vorwärtsbeuge („Paschimottanasana“) als potentielle Offenbarung

 

     All die emotionalen Obsessionen, die unbewußten Konditionierungen, die Neurosen und Psychosen sind heilend oder zumindest regulierend über den Atem ansteuerbar. Und erst mit diesem Erlebnis blühen die Yogahaltungen in ihrem ganzen Potential auf. Eine simple Vorwärtsbeuge im Sitzen beispielsweise wird von dem Moment an, wo der Atem unruhig wird, zum Gradmesser des eigenen Bewußtseins: Kann man die Realität genauso akzeptieren, wie sie ist, die eigene Steifheit vielleicht inklusive? Das würde einem gleichmäßigen Atem entsprechen. Oder forciert man die Situation und zwingt seinen Körper weiter ehrgeizig in die Vorwärtsbeuge, so daß vielleicht das Kinn kurz das Schienbein berührt. Um den Preis allerdings, daß der Atem aussetzt oder kürzer wird. Was einer fanatischen Verengung des Bewußtseins (in diesem Beispiel auf das Ziel hin, das Kinn zum Schienbein zu bringen) gleichkommt.

 

Yoga als wortlose Transformation

 

     Das ist natürlich nur ein einfaches und allgemeines Beispiel für die Interaktion des Atems mit dem Bewußtsein. Aber diese Interaktion ist eben nicht auf Yogahaltungen beschränkt, sondern hat die Tendenz, sich gleichsam von der Matte aus auf die ganze restliche Welt, auf alle Bereiche des Lebens auszubreiten. Nicht nur fitneßmäßig, also dadurch, daß man kräftiger und gelenkiger wird, sondern vor allem vom Verhalten her: Man wird automatisch viel spontaner und  klarer im Umgang mit allen möglichen Situationen. Und wer will das nicht?

     Zudem gibt es für geübte Augen noch einen zusätzlichen Bonus. Ich erinnere mich, daß meine Großmutter bei Männern an der Körperhaltung immer zu erkennen meinte, ob sie „gedient“ hätten, also beim Militär gewesen waren. Meistens hatte sie recht. Yoga hat für Zivilisten einen ähnlichen Effekt: Man ist auch körperlich wahrnehmbar  präsenter, sitzt und steht aufrechter und so weiter.
      Diese Transformation von Yogaposen auf das Leben, was der bewußten Integration des Atmens in Asanas entspricht, kann tatsächlich auch relativ schnell passieren. Zumindest in dem Sinne, daß eine Saat gelegt ist, die früher oder später aufgehen kann. Nicht muß natürlich. Bei mir hat es eher länger gedauert, eine halbes Dutzend Jahre, weil ich oft chronisch Umwege gehe und mein Zeitfenster für Erkenntnisse aller Art recht generös groß ist. Aber auf Effizienz getrimmte Leute sollte das nicht abschrecken. Mit etwas Glück  geht es auch schneller, sogar sofort, wenn man hochintuitiv begabt ist.

     Daß der Yogafunken sofort zünden kann, sogar in der ersten Stunde, wird von Petri Räisänen, einem bekannten Yogalehrer, sehr inspirierend in diesem Video-Interview beschrieben.

 

Die Lotusblüte im digitalen Zeitalter

 

     Um auf den Anfang dieses Blogs zurückzukommen: Hätte mich damals nicht der Ehrgeiz gepackt, durchaus vom Ego motiviert, wenigstens ansatzweise die herausfordernden Yogaposen zu meistern, zumindest nicht vor ihnen erschreckt davonzulaufen und hätte ich mich nicht, was vermutlich noch entscheidender war, gleich in eine der Lehrerinnen verliebt, hätte ich das Yogastudio wohl nicht noch einmal betreten. Ich betrat die Welt des Yoga also durch die ganz profane Tür, was unter anderem den Charme von Yoga ausmacht: Man muß kein Heiliger oder Asket für Yoga sein. Einfach nur man selbst, in welcher verzerrten oder lackierten Version auch immer,  reicht schon. Das bekannte symbolische Bild der Lotusblüte, die für Reinheit steht und die aus dem Schlamm – und nur aus diesem – wächst, wäre im Jungschen Sinne ein Hinweis darauf, daß Yoga ein alchemistischer Prozeß der Psyche zu mehr Integration darstellt.

      Das Mysterium des Yoga jenseits von Fitneß und Kitsch, die ursprüngliche Erfahrung, die sowohl „Inder“ als auch „Europäer“ transzendiert und für alle Menschen zugänglich ist, ist allerdings ohne Praxis unmöglich zu erleben. Was vermutlich auch Jung sofort zugeben  würde, wenn er Yoga denn wirklich praktiziert statt nur rezipiert hätte. Ohne  immer wieder die Matte auszurollen, auch zuhause und nicht nur im Studio, hätten alle Bücher und Videos und Gurus der Welt  – und natürlich auch Blogs! – mir Yoga nicht näher gebracht. Aber Praxis ist bei den guten Dingen im Leben natürlich schon immer des Rätsels Lösung. Das wäre dann die kurze Message dieses langen Textes.

Namasté

🙏

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