Jeder kennt ja den Spruch, der meist auf Gesprächssituationen angewandt wird, daß der Ton die Musik macht. Der Ton, nicht der „äußere“ Inhalt der Worte. Woraus man ableiten kann, was ich jetzt tue und viele andere auch schon gemacht haben, daß Musik, weil eben aus Tönen bestehend, einen direkteren Draht zu den Emotionen der Menschen hat, auch zu den verborgenen und unbewußten, als andere Medien. Wie Leute zu Musik stehen, direkt mit ihr konfrontiert, spiegelt so gesehen relativ unverzerrt sofort ihr Innenleben, ihre Psyche.
Eine etwas lange Vorrede, aber so versteht man vielleicht besser, warum ich, als ich noch nachts Taxi fuhr, allein über die Reaktionen auf die von mir gehörte Musik Fahrgäste recht schnell einschätzen konnte. Ich hörte praktisch immer irgendeine von meinen Playlists, denn es vertrieb die unwirtliche Einsamkeit des Jobs, vor allem, wenn man nachts durch menschenleere Berliner Straßen fuhr.
Es war einer dieser Nächte vor der Corona Zeit, wo der Umsatz niedrig und dementsprechend auch meine Laune eher schlecht war. Ich fuhr die Schönhauser Allee hinunter, zwei Uhr morgens, als tatsächlich jemand am Straßenrand winkte und nicht von den vor mir fahrenden leeren Taxis abgefangen wurde. Typ: damaliger Hipster, mit Vollbart, Glatze, Rucksack. Statt einer Begrüßung sagte er einfach nur unwirsch das Fahrziel. Friedrichshain, von einem Szenebezirk in den nächsten und klappte dann auf dem Rücksitz sein MacBook Air auf, in Roségold, damals ganz neu auf dem Markt. Irgendwie auch ein Beispiel für den allgegenwärtigen elektronischen Autismus: Mitten in der Nacht seinen Laptop zu aktivieren, für eine Taxifahrt von höchstens einer Viertelstunde.
Dann ließ er das Fenster herunter, ohne mich allerdings zu fragen, ob das okay sei,– denn natürlich zog der Fahrtwind sofort durch den ganzen Innenraum. Aus Taxifahrerperspektive ein typischer Kotzbrocken also. Auch wenn er bei Tageslicht vielleicht ein liebenwerter Familienvater oder verläßlicher Freund war. Aber ich hatte es offensichtlich mit der nächtlichen Schatten-Version des Charakters zu tun. Sogar stärker als vermutet wie sich herausstellen sollte.
Weil ich gerade eine Whitney Houston – Playlist hörte, überlegte ich kurz, die Musik auszumachen. Das machte ich manchmal bei unangenehmen Kunden, um die Musik psychisch für mich zu schützen, damit sie sich nicht später assoziativ mit diesen Leuten verband. Aber dann besann ich mich anders und dachte mir: Was solls?! Ihre Stimme hatte ja ozeanische Qualitäten, sie war allen Fahrgästen gewachsen und brauchte keinen Babysitter.
So ließ ich die Musik also laufen, nicht zu laut, aber auch nicht wirklich leise und der Mann reagierte nicht auf all die weltbekannten Hits, die einer nach dem anderen das Taxi und wegen des offenen Fensters auch die Umgebung mit Sound anreicherten. Wer bei Whitney Houston nicht wenigstens ein bißchen aufhorchte, so mein Vorurteil, damals und heute, hatte keinen besonderen Sinn für Musik.
Was meistens davon begleitet war, Musik eher als eine Art rhythmisch untermaltes Lifestyle-Statement wahrzunehmen. Es schien mir kein Zufall, daß beispielsweise Besucher von Rammstein Konzerten, wo die Show dominiert, sich nicht freiwillig und sicher nicht mit Begeisterung die Bach-Partiten von Hilary Hahn anhören würden, wo die Musik dominiert. Meine Sample-Auswahl an Leuten ist allerdings mengenmäßig nicht signifikant, möglicherweise ist es ja doch ganz anders.
Jedenfalls war das meine spontane Einschätzung des Fahrgastes und deswegen war ich gespannt, was gleich passieren würde. Ich kannte die Reihenfolge meiner Songs in der Playlist und wußte, daß nach „I Wanna Dance with Somebody “ der „Star Spangled Banner“ kam; also die amerikanische Nationalhymne, gesungen 1991 von Whitney Houston beim Superbowl-Finale. Musikalisch wache Menschen aus allen Ecken der Welt werden beim Hören dieser hypnotischen Version mehr oder weniger alle zumindest für Sekunden tiefenpsychologisch zu Amerikanern, beziehungsweise können umgekehrt vergessen, daß es sich um die Nationalhymne eines Landes handelt. Natürlich nicht, wenn sie Amerikaner sind. Die Power und echte Begeisterung von Houstons Stimme fängt einen derart ein, daß der politische Aspekt von der musikalischen Aura geradezu ausradiert, beziehungsweise in wirklich transzendente Sphären erhoben wird. Abgesehen davon hat natürlich die letzte Strophe, wo es darum geht, ob die Fahne noch wehen würde „o‘er the land of the free and the home of the brave“, zumindest für mein Empfinden eine allgemein menschliche Qualität. Was ist schlecht an Freiheit und Mut?
Wenn man allerdings nur psychisch negativ dadurch getriggert wird, daß man die amerikanische Nationalhymne hört, dann ist die Reaktion oft eine völlig andere. So auch bei meinem Fahrgast. Er erwachte aus seinem kommunikativen Koma und bemerkte scharf: „Hören Sie da etwa die Ami-Hymne?!“ Ich sah kurz im Rückspiegel in sein Gesicht (mein Spiegel war immer so gedreht, daß ich die Fahrgäste im Blick hatte) und erwiderte: „Nein, Whitney Houston.“ – „Können Sie diesen faschistischen Dreck bitte ausmachen! Sonst steige ich aus!“ Ich war viel zu müde, um zu diskutieren. Mir war schon klar, daß „faschistisch“ ein typisch gegenwärtiges Blanko-Wort für Unmut war, genauso gut hätte er „rassistisch“ oder „nazi“ oder „rechtsextrem“ sagen können. Oder eigentlich auch nur aggressiv zu grunzen, hätte vollkommen gereicht. Aber trotzdem konnte ich für einen Moment nicht widerstehen, allerdings schon langsamer fahrend und einen Ort zum Halten suchend: „Es waren nicht die Marsmännchen, die in der Normandie gelandet sind.“ Ich war selbst erstaunt über meine übermüdete Schlagfertigkeit. Der Mann bemerkte verständnislos: „Wie bitte?!“
Ich hielt das Taxi in der Karl Marx Allee an (ja, tatsächlich, Zufälle gibts…), setzte den Warnblinker und sagte: „Okay, Aussteigen bitte!“ Er klappte seinen Laptop zu und schaute auf den Taxameter. „Bezahlen tue ich das hier aber nicht!“ Natürlich hätte ich die Polizei rufen können, Beförderungserschleichung im Juristendeutsch, und vermutlich wäre dann per Anwalt noch irgendeine große Diskussion darüber losgebrochen, ob man den „Star Spangled Banner“ als Taxifahrer hören darf, wenn der Fahrgast sich dadurch gestört fühlt. Oder ob Whitney Houstons Stimme den politischen Aspekt derart relativiert, daß es kein politisches Statement mehr ist. Und so weiter. Auf diesen vermutlich ausufernden Stress hatte ich aber keine Lust und so ließ ich ihn ziehen.
Ich habe diese Episode deswegen etwas ausführlicher erzählt, weil sie auf der ganz alltäglichen Ebene die gegenwärtige Gehirnwäsche in der deutschen Gesellschaft widerspiegelt. Natürlich kann man Songs mögen oder nicht, natürlich muß man kein Freund der Amerikaner sein und natürlich muß man auch nicht von Whitney Houstons Stimme fasziniert sein. Der Punkt ist aber die völlig konditionierte Reaktion auf bestimmte Reize. Ganz ähnlich dem Pawlowschen Hund, dessen Speichelfluß allein durch den Klang der Glocke ausgelöst wird, unabhängig davon, ob es wirklich Futter gibt. Also unabhängig von der Realität.
Ein kleiner Einschub, damit deutlich wird, daß es nicht um Meinungen als solche geht, sondern wie sie zustande kommen: Hätte der Mann aufgrund persönlicher Erfahrung eine authentische Abneigung gegenüber dem „Star Spangled Banner “ gehabt, weil also vielleicht ein guter Freund von ihm in Afghanistan von den amerikanischen Streitkräften erschossen worden ist, dann hätte ich das sofort respektiert. Denn Erfahrung toppt in meiner Welt immer jede Meinung. Aber das woke Bewußtsein spricht eben nie aus Erfahrung, sondern kopiert papageienhaft fast immer irgendwelche fanatisierten Vorstellungen.
Der tatsächliche Trigger, also die „Pawlowsche Glocke“ beim Hören des „Star Spangled Banner“ dürfte für jenen Fahrgast die Präsenz und Wahrnehmung von Nationalstolz gewesen sein. Eine eigentlich völlig natürliche Sache, wenn man beispielsweise an vergangene Fußballweltmeisterschaften denkt, wo kleine und große Länder darin vereint waren, daß ihre Spieler meistens wirklich ergriffen ihre jeweiligen Hymnen sangen. Ohne im Traum daran zu denken, deswegen andere Länder und Menschen zu verachten. Sie waren einfach nur stolz, für das Land spielen zu dürfen, in dem sie aufgewachsen waren und vielleicht auch lebten. Auch die deutschen Fußballer verkörperten diese Haltung einst, zumindest noch 2006, beim „Sommermärchen“.
Springt man in die heutige Zeit, hat sich gesellschaftlich im Mainstream etwas Entscheidendes verändert: Ob Rewe, Fußballweltmeisterschaften, Polizeistationen, überall feiern Leute, Behörden und Institutionen sich dafür, daß sie sich nicht mehr als deutsch präsentieren, sondern auf eine sterile Weise als divers und weltoffen. Das eigene Land wird auf der symbolischen Ebene flächendeckend und dauernd abgewertet. Wer mit einer Deutschlandfahne statt mit einer Regenbogenbinde herumläuft, wird vom moralischen Mainstream teilweise schon als böse und potentiell verdorben wahrgenommen. Zumindest als erbärmlich rückständig. Wenn nicht sogar als „Nazi“. Weil man das eigene Land und die Sprache und die Kultur liebt, gilt man plötzlich als ein Befürworter jener Ideologie, die Millionen von Menschen in Gaskammern ermorden ließ. Was eine völlig irre, eigentlich psychotische Unterstellung ist, der man genau deswegen auch mit Argumenten nicht mehr beikommen kann. Was wichtig zu verstehen ist: Vernunft kommt gegen aktivierte Emotionen nicht an. Was aber – langfristig zumindest – dagegen ankommt, ist die nüchterne Benennung und Artikulierung der Tatsachen. Deswegen unter anderem auch dieser Blog.
Die tiefe, hier beschriebene Aversion gegen den „Star Spangled Banner“, zumal noch in Whitney Houstons Version, ist so gesehen ein Symptom dafür, daß das Bewußtsein vieler Zeitgenossen völlig von Ideologie gekapert worden ist und nur noch blind und reflexartig auf Reize reagiert. Ohne Verständnis, ohne Empathie, ohne Wissen. Mit Musik hat das alles nichts mehr zu tun, es ist sogar das Gegenteil von Musik. Denn Musik lebt vom aufmerksamen Hinhören, vom authentischen Gefühl. Zwei Eigenschaften, die bei jedem fanatisierten Bewußtsein chronisch unterentwickelt sind. Weswegen Whitney Houstons Stimme der psychologischen Entwicklung der Menschheit einen großen Dienst erwiesen hat, der weit über ihren Tod hinausreicht. Sie wäre übrigens im August 62 Jahre alt geworden. Auch im Gedenken an sie habe ich diesen Blog geschrieben.
Wer sich selbst nicht liebt und damit übertragen also: sein eigenes Land nicht liebt, kann auch andere nicht wirklich lieben und wird auch nicht von anderen wirklich geliebt. Er oder sie ist wie ein Blatt im Wind und kein Baum im Sturm. Aber es wird sicher wieder eine Zeit kommen, wenn Deutsche sich mitfreuen, wenn andere Menschen ihr eigenes Land lieben und auch sie selbst wieder ihr eigenes.
Bis dahin heißt es, cool zu bleiben und die Dinge beim Namen zu nennen. Und natürlich keine Angst davor zu haben, das „Falsche“ zu hören oder gar zu singen. Deutschlands ideologische Kaiser sind vollkommen nackt, aber sie tun so, als würden sie die Avantgarde des Geistes auf den medialen Laufstegen präsentieren. – Märchen veralten nie.