Die benutzte Tochter
Als ich die Email-Einladung von Beat Presser zur kommenden Ausstellungseröffnung seiner Kinski-Fotos erhielt, dachte ich, das sei eigentlich ein guter Anlaß, einen Blogtext über Klaus Kinski zu schreiben. Denn er hatte, als ich Anfang zwanzig war und gerade meinen Weg als Autor begann, eine intensive, wenn auch eher unbewußte Wirkung auf mich. Nachdem ich allerdings eine Seite oder so geschrieben hatte, recherchierte ich etwas genauer über Kinskis jahrelangen sexuellen Mißbrauch an seiner Tochter Pola. Am Ende des Tages ist Wahrheit und nicht Kitsch oder Idolisierung mein Kompaß. Sie hatte ein detailliertes Buch darüber geschrieben, „Kindermund“. Die Auszüge reichten mir und ich verlor zunächst völlig die Lust, noch etwas über ihren Vater zu schreiben.
Denn bei sexuellem Kindesmißbrauch bin ich hundertprozentig auf Seiten der Kinder, egal ob die Täter zauselbärtige Korangläubige sind oder berühmte Schauspieler. Nicht nur aus spontanem Ekel, sondern auch aus nüchterner Überlegung: Kulturen und Personen, die ihre Kinder der Geilheit von Erwachsenen ausliefern, schädigen die gesunde psychische Entwicklung der zukünftigen Generationen auf eine unvorstellbare Weise. Da da gibt es nichts zu beschönigen.
Eine Welt jenseits des Mißbrauchs
Aber zurück zum Vater; denn nach ein paar Tagen und nachdem ich etwas Distanz zu meinem ersten tiefen Abscheu entwickelt hatte, konnte ich eine Sache nicht verdrängen: Klaus Kinski hatte einen wirklichen Einfluß – und meiner Meinung nach einen positiven, davon gleich mehr – auf mich als junger Autor gehabt. Dies totzuschweigen, weil er nicht die Person war, für die ich ihn gehalten hatte, schien mir auch falsch. In gewißer Weise sogar verlogen. Ich meine: Alle Leute reden immer davon, Menschen nicht simpel in Gut und Böse zu unterteilen. Wenn es aber Ernst wird, also das Böse oder die Sünde oder wie auch immer man letztlich asoziales oder kriminelles Verhalten benennt, ihr häßliches Haupt erhebt, vergessen viele all die Sonntagsreden. Die einst Bewunderten werden plötzlich komplett verneint, gerne auch gekreuzigt, heute medial, früher real und manchmal auch beides. Im globalen Maßstab war dieses Phänomen sehr gut bei Michael Jackson zu beobachten. Einst als Sänger und Performer fast ein Gott und plötzlich, falls doch mal ein Radiosender seine Songs noch spielte, kamen schnell Kommentare wie: „Ach, ist das nicht der Kinderschänder?!“ Die Power seiner Songs, seiner Stimme sie zählte nicht mehr, es gab nur moralisches Schwarz oder moralisches Weiß.
Schubumkehr der medialen Sympathie
Diese Schubumkehr der medialen Sympathie – aber oft auch in persönlichen Beziehungen zu beobachten, wenn aus großer Liebe tiefste Verachtung wird –, hat vermutlich auch damit zu tun, daß viele Menschen sich immer komplett mit ihren Idolen identifizieren und in dem Augenblick, wo aufgrund der Schattenseiten Identifikation nicht mehr möglich ist, nur noch eine komplette Abwertung und Spurenvernichtung des einstigen Vorbilds die eigene Seele vor dem parallelen Untergang rettet.
Da ich allerdings nie mit Kinski auf diese neurotische Weise verschmolzen war, habe ich dieses Problem nicht. Wenn ich mich meiner Abneigung vor sexuell übergriffigen Tätern nicht ausliefere – und also meinen inneren Buddha aktiviere –, kann ich recht vorurteilsfrei über jene Qualität von Kinski schreiben, die mich berührt und tatsächlich beeinflußt hat. Nein, es ist nicht das Augenrollen, Zungezeigen und donnernd „Du dumme Sau!“ brüllen, das der Komiker Max Giermann parodierend ziemlich gut draufhat und womit er die Leute regelmäßig zum Lachen bringt. Und auch mich beim ersten Mal, zugegeben. Zum Beispiel hier. Nur hat diese geradezu offizielle Karikatur seiner Person wenig bis gar nichts mit dem Kinski zu tun, der jene authentische Wirkung auf mich hatte.
Erster Kontakt
Und von dieser seltsamen Wirkung will ich jetzt schreiben. Es fing damit an, daß ein Freund mir Ende der siebziger Jahre eine Schallplatte vorspielte, wo Kinski Gedichte von Rimbaud und Villon rezitierte. Expressives Zeugs wie: „Ich schrie mir schon die Lungen wund / nach deinem weißen Leib, du Weib.“ Zwar überhaupt nicht meine Welt als Autor, weder damals noch heute, im Vergleich zu Rilke oder Heine oder natürlich auch meinen eigenen Texten war mir das alles viel zu direkt, fast platt, aber ich war ehrlich fasziniert von Kinskis intensivem Vortrag. Da rauschte gleichsam das echte Meer in seiner Stimme auf, das hatte ich so sonst vorher noch nie gehört.
Ein unbewußter, spiritueller Funken
Ich schaute mir dann neugierig Filme von ihm an, hauptsächlich die von Werner Herzog: „Woyzeck“, „Aguirre“, „Nosferatu“. Eine Szene in „Aguirre, der Zorn Gottes“ hatte tatsächlich auf mein Unbewußtes eine tiefgreifende Wirkung, aber das wurde mir erst sehr viel später klar. Dazu komme ich gleich, denn deswegen schreibe ich diesen Blog überhaupt; doch zunächst einmal meine eher oberflächliche Reaktion. Mein bewußter Eindruck war ähnlich wie der der meisten: Ich spürte Kinskis Intensität und Präsenz als Schauspieler. Als Mensch kannte ich ihn ja nicht. Aber am Ende des Tages war ich von Intensität als solcher oder daß Leute ihre Gefühle exzessiv auslebten, nicht wirklich fasziniert.
Auch daß er in Talkshows und Interviews Leute spontan vor den Kopf stoßen konnte – was mir damals vom Hörensagen zugetragen wurde, es gab noch keine YouTube-Videos – , die auf seine aggressive Energie mit ihrer konventionellen Fassade von Kommunikation nicht mithalten konnten, empfand ich zwar als zunächst sympathisch. Vor allem im Zeitalter der Angepaßten und Ängstlichen, wir mir unseres schon damals vorkam. Aber richtig warm wurde ich mit seinem bissigen Verhalten auch nicht.
Ich war nicht sooo wild nach dem Erdbeermund
Mir war das alles einen Tick zu extrovertiert und zu laut. Vermutlich war ich damals schon intuitiver Buddhist und sah es eher als Problem und nicht als Kunst an, wenn man von Emotionen mitgerissen wurde. Und sehr oft hatte ich das Gefühl, daß gerade die Leute kompensatorisch für Kinski schwärmten, die selbst zu feige waren, Konflikte real auszutragen. Was mich aber in meinem entflammten Interesse nicht hinderte, in einer Bücherei in Formentera – ich trampte damals viel in Europa herum – einen Blick in seine Biografie: „Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund“ zu werfen. Aber auch sein Buch hatte im Grunde den gleichen Effekt wie seine Rezitationen und Filme auf mich: Ich spürte die Intensität, aber es war nicht ganz meine Wellenlänge. Und literarisch war sein Buch für mein damaliges Urteil erwartungsgemäß Trash. Er hatte allerdings mehr Sex als ich und mit sehr attraktiven Frauen, das war für mich leicht frustrierend, aber dafür schrieb ich besser, das war auch keine Frage.
„Aguirre, der Zorn Gottes“
Wäre es aber nur das, würde ich natürlich keinen Blog über Kinski schreiben. Da würde ja jede Pointe fehlen. Die Pointe kommt aber jetzt. Denn tatsächlich Jahrzehnte später, als ich meinen Keller aufräumte, entdeckte ich ein altes Ölkreidebild von mir, das eine Szene aus dem Film „Aguirre, der Zorn Gottes“ mehr plakativ zeichnerisch als realistisch nachstellte: Kinski, der einen Conquistador auf der Suche nach dem legendären Eldorado spielt, treibt auf einem Floß im Amazonas, gescheitert, die meisten seiner Mitstreiter sind schon getötet. Mit Blick zum Himmel, ein Äffchen in der Hand haltend, sagt er zu sich selbst: „Ich bin der Zorn Gottes, wer sonst ist mit mir?“. Im Film schmeißt er dann das Äffchen resigniert zur Seite. Diese Szene hat existentielle Power und ich vermute, daß nur wenige Schauspieler sie spielen könnten, ohne lächerlich zu wirken.
„Eldorado“ in Berlin
Als ich damals überrascht das Bild im Keller betrachtete – ich hatte seine Existenz völlig vergessen, es rührte aus einer kurzen Malereiperiode meines Lebens – öffnete sich eine innere Tür. Mir wurde das erste Mal bewußt, was mich damals an Kinski und dem Film „Aguirre“ unbewußt so fasziniert hatte, es war genau in dieser Szene versteckt. Auch ich war damals (und bin es wohl immer noch) auf der Suche nach jenem legendären „Eldorado“. Nur war es bei mir kein Land aus Gold und keine die Augen blendenden, den Verstand verwirrenden, keine unvorstellbar kostbaren Schätze irgendwo im Dschungel, sondern es war die Vorstellung, gegen alle Widerstände meinen Weg als Autor zu machen und Meisterwerke zu erschaffen. Bewaffnet und beschützt von meiner Sprache war mein gefährliches Amazonas-Gebiet gleichsam das Hier und Jetzt, durch das ich mich mit Gottvertrauen in meine Mission durchschlug.
Karriere vs. Schicksal
Gleich Aguirre wurde auch mir eine düstere Zukunft prophezeit. Ich erinnere mich an einen bekannten Literaturprofessor, Höllerer, der in seinem Arbeitszimmer zwar mit warmen Worten meine Begabung würdigte, mir sogar ein Stipendium verschaffte, aber dann, als ich ihm von meinen damaligen Vorbildern erzählte: Hölderlin, Celan, Baudelaire, wirklich bekümmert aus dem Fenster schaute, wo die Schneeflöckchen tanzten. Und ohne jede Ironie sagte: „Das ist schlecht, sehr schlecht.“ Es sah vermutlich den gleichen Wahnsinn in mir, den ich in Aguirre aka Kinski im Film sah: Als Dichter dem eigenen Stern, statt dem angesagten Mainstream zu folgen, komme, was da wolle.
Daß ich bald darauf die Universität schmiß und damit der offiziellen Karriere Lebewohl sagte, hatte zwar mehrere Gründe – hauptsächlich den, daß ich nicht glaubte, dort zu dem Autor zu reifen, der ich werden wollte– , aber Kinski war insofern eine Art spiritueller Mentor für diesen Entschluß, weil seine ganze Art Unangepaßtheit, kombiniert mit Leidenschaft und ja, Wahrheitsuche, für mich verkörperte. Ich fühlte mich nicht völlig isoliert, verstreut überall auf der Welt gab es Menschen, die auch konsequent ihren Weg zu gehen versuchten. So nahm ich damals Kinski jedenfalls unbewußt wahr, als ein spirituelles und authentisches Leuchtfeuer, speziell in jener gerade beschriebenen Szene aus dem Werner Herzog Film: „Aguirre, der Zorn Gottes“.
Kinskis menschliches Vermächtnis
Das Bild im Keller ist leider inzwischen bei allen meinen Umzügen irgendwann verschollen gegangen; aber meine Erinnerung daran nicht. Das Bewußtsein transzendiert eben Raum und Zeit. Für Menschen, die Kinski nur als irre Karikatur oder psychopathisches Monster wahrnehmen, klingt es vermutlich absurd, daß ich damals einen echten spirituellen Funken von ihm herüberspringen fühlte. Daß Visionen nicht nur lächerlich oder wahnhaft sind, sondern es wert sein können, sie mit Leben zu erfüllen. Auch wenn es riskant ist. Genau diese innere Haltung ist für mich auch die Erbschaft von Kinski, genau so wie sein sexueller Mißbrauch an seiner Tochter Pola. Es gibt halt bei Menschen immer nur das Komplett-Paket.
Jenseits der Show
Womit sich der Kreis schließt und man nicht nur bei Jesus landet: „Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein“ (Johannes Evangelium 8,7); – sondern bei der Kinski-Variante, vorgetragen bei seinem historischen Auftritt in der Deutschlandhalle, wo er das Neue Testament in seiner eigenen Version präsentierte: „Wer von euch nicht nur eine große Schnauze hat, sondern wirklich ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“
Als Reaktion auf dauernde hämische Unterbrechungen aus dem Publikum stammen seine vermutlich berühmtesten und oft parodierten „Ausraster“ aus diesem Abend. Was aber angesichts von Kinskis Aggression gerne vergessen oder verdrängt wird, ist, daß ein Großteil des Publikums selbst eine extreme Aggression und Verachtung ihm gegenüber zeigte.
Darauf reagierte er. Die Leute spürten, daß er sich wirklich mit Jesus identifizierte. Und nichts verzeiht das Kollektiv weniger, weder heute noch damals, als wenn jemand – als Außenseiter und nicht als Mitläufer – sich wirklich für etwas Besonderes hält und möglicherweise auch noch ist. Dann ergießt sich der unbewußte Haß von Menschen, die ihre eigenen Lebenslügen verdrängen, ungefiltert und roh auf jeden, der bei diesem Theater nicht mitspielt. Dieses Drama ist leider noch lange nicht zuende und daran erinnert zumindest mich Klaus Kinski. Zum Abschluß hier noch ein geradezu introvertiertes Interview von ihm, jenseits all der üblichen Klischees.
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