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Silvo Lahtela

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Die Illusion von Dating Apps und KI

Schwan, flügelschlagend
Warum Dating Apps und Künstliche Intelligenz zwar schlau, aber dennoch der Wirklichkeit niemals ganz gewachsen sind.
Monatliches Blog-Update

Das uralte Spiel der Geschlechter als App

 

     Inzwischen dürfte jeder irgend jemanden kennen, oder selbst ein solcher jemand sein, der oder die eine flüchtige oder längere Beziehung durch eine Dating App gehabt hat oder noch hat. Die Zeiten, wo nur kontaktscheue und eher neurotische Menschen klammheimlich Kontaktanzeigen in Zeitungen aufgaben, sind sehr lange vorbei. Spätestens seit dem Siegeszug des Smartphones ist es zumindest für Singles alltäglicher Standard, sich online mit einem „Profil“ auf verschiedenen, der Partnerschaft oder Lust gewidmeten Plattformen zu präsentieren. Die alle im Prinzip ähnlich funktionieren, ob sie sich exklusiv geben oder für alle offen sind: Man lädt ein vorteilhaftes Bild von sich hoch, schreibt ein paar Zeilen oder mehr über die eigenen Interessen und das uralte Spiel der Geschlechter, gewürzt mit neuer Kommunikationstechnologie, kann beginnen.

 

Ungeahnte neue Möglichkeiten

 

     So kann beispielsweise ein Mann, der vielleicht das erste Mal Berlin besucht und niemanden kennt, aber das Standort-Tracking auf der Dating App freigegeben hat, plötzlich eine Anfrage von einer Frau erhalten, die entweder auch zufällig in Berlin ist oder dort wohnt und ein paar Stunden später trifft man sich vielleicht im Café des Soho Houses. Ohne Smartphone und ohne die besondere App wären sich diese beiden Menschen vermutlich nie über den Weg gelaufen, geschweige denn, einen Kaffee trinken gegangen oder sogar mehr. Und die entsprechenden Plattformen werden auch nicht müde, werbewirksam auf diesen Umstand hinzuweisen.

 

Die realen Schattenseiten des virtuellen Kontakthofs

 

     Worauf sie allerdings – kommerziell verständlicherweise– nicht hinweisen, ist die Tatsache, daß den online und digital generierten Dates zwei Qualitäten fehlen, die in den vergleichsweise unschuldigen analogen Zeiten die Spreu vom Weizen trennte. Das erste Element, das automatisch bei allen Dating Apps fehlt, ist das Spontane. Logisch, wer im virtuellen Kontakthof unterwegs ist, sucht ja jemanden. Ein bißchen wie jene etwas angespannten und von Berechnung getriebenen Leute, die nur deswegen auf eine Party gehen, um irgendwen kennenzulernen, nicht wegen der Party als solcher. Das ist von der Psyche ein großer Unterschied. Es ist der Unterschied zwischen Freiheit und Konditionierung.

     Ein Symptom dafür ist der sichtbare Verfall der unbekümmerten und doch hohen Kunst des Flirtens. Denn Flirten besteht gerade in der absichtlichen Unschärfe der Situation: Es ist weder ein offensichtliches Anmachen noch ein klares Desinteresse, es läßt Spielraum für die Realität, ohne sich aber zu entziehen. Es fällt aber niemals mit der Tür ins Haus wie jede Dating App, deren Benutzung allein schon ausdrückt: Wir flirten jetzt. Dann ist das Wesen des Flirts vorbei.

 

Das Bedürfnis steuert die Begegnung, Neurose in Aktion

 

     Das zweite Element, das bei Kommunikation über Dating Apps fehlt, ist etwas subtiler, aber eigentlich noch wichtiger: Nicht die Begegnung mit einer anderen Person löst vielleicht den Wunsch nach Partnerschaft oder profaner: Sex aus, sondern der Wunsch nach Partnerschaft oder Sex löst die Begegnung aus.

     Das hört sich ein bißchen nach Haarspalterei an, ist aber ein Unterschied wie Tag und Nacht. Denn im ersteren Fall ist ein reales Erlebnis Voraussetzung für den Kontakt, im letzteren Fall wird der Kontakt durch eine Vorstellung initiiert. Keineswegs dasselbe. (Für Leute, die immer die Kontrolle über ihre Beziehungen behalten wollen, umgangssprachlich „Kontrollfreaks“, sind natürlich Dating Apps ein Geschenk des Himmels. Die eigene Neurose als Programm auf dem Smartphone, das ist schwer zu toppen.)

 

Ein alltägliches Beispiel jenseits der Apps

 

     Ein Beispiel klärt das vielleicht noch besser: Sagen wir ein Mann (ja, dieser Text ist aus Männerperspektive geschrieben, was aber an den Gedankenbewegungen und Schlußfolgerungen nichts ändert, da sie asexueller Natur sind) spricht am frühen Morgen im Supermarkt eine Frau an, weil es ihm gefällt, wie sie prüfend Avocados auf den Reifegrad hin abdrückt. Statt nach dem Frühstück zur Arbeit zu gehen, funkt es zwischen den beiden derart heftig, daß sie im Bett landen und ein paar Monate später tatsächlich heiraten.

 

Attraktion, ausgelöst durch Realität oder durch Obsession

 

     Ein im Prinzip alltägliches Beispiel, aber es zeigt den Unterschied zu den arrangierten Treffen von Dating Apps. Der Auslöser zum Kontakt war erstens spontan und inspiriert durch eine reale Interaktion: Avocados befühlen im Supermarkt, so etwas kann man sich nicht ausdenken. Zweitens: Die beiden waren nicht Einkaufen, um jemanden aufzureißen, sie waren mitten in ihrem alltäglichen Leben. Sie waren also relativ authentisch. (Ein Grund dafür, warum „früher“ – Pre-Smartphone – viele Paare sich auf Arbeit oder beim Studium usw.  kennengelernt haben und nicht in Bars oder auf Partys.)

     Drittens und am allerwichtigsten: Der „Kontaktreiz“, die Attraktion wurde durch komplexe Realität (die Situation im Supermarkt) ausgelöst und nicht durch die mehr oder weniger vorstellungsfixierte, von kalkulierten Phantasien beherrschte Reaktion auf ein „Profil“. Psychoanalytisch gesprochen bedeutet dies, daß das Unbewußte, also das Intuitive und Unberechenbare integrierter Teil der Begegnung war.

 

Das Unbewußte als live Korrektur des Bewußtseins

 

      Wer nur ein wenig Erfahrung um die praktische, aber selten reflektierte Bedeutung des Unbewußten für subjektive Entscheidungen hat – Wink: im Vergleich zum Teich des Bewußtseins ist das Unbewußte ein Ozean an Möglichkeiten, der zudem oft das Bewußtsein einfach überflutet –, weiß, daß die Ausschließung dieses Faktors neurotische Zwangsvorstellungen begünstigt.

     Denn das Unbewußte, dies ist seit C.G. Jung als ernstzunehmende Hypothese in der Welt, „korrigiert“ die Einseitigkeiten des Bewußtseins im Sinne einer ganzheitlichen Perspektive auf den Menschen. Indem es Leute beispielsweise oft wider Willen, aber trotzdem unwiderstehlich in völlig verrückte Situationen treibt, um aus dem gewohnten, aber der Persönlichkeit nicht mehr adäquatem Trott auszubrechen.

 

Die strukturelle Eliminierung des Unbewußten bei Dating Apps

 

     Das Unbewußte gehört nun nicht zum „Package“ von Dating Apps, auch nicht in den teuren „Premium“ Versionen. Man kann es nicht zukaufen. Im Gegenteil, alle Plattformen arbeiten praktisch daran, das Unbewußte, also das wirklich Unberechenbare so weit wie möglich durch das definierte Profil der User zu eliminieren.

     Denn der Sinn des Profils ist ja genau die Limitierung der möglichen Kontakte durch die auf das eigene Bewußtsein zugeschnittenen Filter wie Alter, Beruf, politische Orientierung, Hobbys, sexuelle Vorlieben und so weiter. Das hört sich intelligent an, geradezu lebensklug, das Problem dabei aber ist wie gesagt, daß die Filter der Vorstellungen vom Prinzip her nur die Beschränktheiten des eigenen Bewußtseins spiegeln können und daher alles ausschließen, was den eigenen Horizont transzendiert. Und das ist möglicherweise genau das Lebendige und Heilsame.

 

Lovestory zwischen Hamas und Israel Defense Forces (IDF) ist mit Dating Apps nicht möglich

 

     Das, was den eigenen Horizont wirklich transzendiert, ist im traditionellen Sinne zum Beispiel die große Liebe, die echte Leidenschaft, die amour fou, der seelische Blitzschlag, gegen den selbst Götter machtlos sind. Romeo und Julia Geschichten – Liebe zwischen verfeindeten Familien, „Clans“, oder moderner: Lovestorys zwischen Angehörigen der Hamas und denen der Israel Defense Forces (IDF) – sind mit „guten“ Dating Apps nicht möglich. Schon deswegen, weil kein fanatischer Muslim Dates mit einer erkennbar Ungläubigen suchen wird und umgekehrt ebenfalls sehr unwahrscheinlich. Würden sich aber beide nach tagelangem einsamen Herumirren in der Wüste kurz vor dem Verdursten an einer Oase treffen, sähe die Sache vermutlich völlig anders aus.

 

Das Parallelphänomen: Der Hype um Künstliche Intelligenz

 

     All diesen Beispielen, ob Oase oder Supermarkt, ob extrem oder alltäglich ist gemein, daß sie in einer komplexen Realität eingebettet und nicht reduzierbar auf eine isolierte Variable sind wie etwa: Partnersuche. Und hier ist eine gute Gelegenheit, auf ein erhellendes Parallelphänomen zu den Dating Apps hinzuweisen: nämlich die deutlich übertriebene Erwartungshaltung gegenüber Künstlicher Intelligenz (KI). Das ist insofern interessant, weil es zeigt, daß der Hype um Dating Apps Teil einer bewußtseinsmäßigen globalen Mode ist, die glaubt, mehr ist es nicht als Glauben, die Wirklichkeit mit relativ simplen Modellen sinnvoll und wahrheitsgemäß abbilden zu können.

 

Wo KI ihren Platz hat

 

     KI ist zwar dafür verantwortlich, daß heutzutage selbst ein Schachweltmeister keine Chance mehr hat, in diesem Spiel gegen eine kostenlose App auf einem Smartphone zu gewinnen; oder daß Bildsoftware aus Millionen von Gesichtern auf Wunsch sofort spezifische Personen identifiziert, etwa am Flughafen; oder daß ChatGPT zu allen möglichen Dingen sekundenschnell Informationen beisteuern kann. Wer wissen will, auch wenn er in Berlin gerade bei funzliger Beleuchtung seinen dunklen Keller aufräumt, wie genau jetzt das Wetter auf den Malediven ist, erhält diese Info mit ein paar Streichgesten und Klicks auf dem Handy. Oder wann noch mal genau der Flieger aus New York in London landet, damit man dort die Tochter abholen kann.

 

Häufige Verwechslung von Bewußtsein und Informationsverarbeitung

 

     All dies ist faszinierend und manchmal auch sehr praktisch, aber es kann einen zu der fälschlichen Annahme verleiten, daß all diese unterschiedlichen Rechner, die einen Tag und Nacht begleiten, irgendeine Art von Bewußtsein haben. Sehr leicht kann man vergessen, daß es sich letztlich um Geräte zur Informationsverarbeitung handelt, die erstens nur selektierte Informationen verarbeiten können und zweitens nur solche, die mathematisch formulierbar sind.

 

Die unüberschreitbare Grenze jeder Künstlichen Intelligenz

 

     Alles, was sich also mathematischer Formulierung entzieht, ist für einen Computer (und seine milliardenfache Ableger: Smartphones) auf ewig ein Buch mit nicht nur sieben, sondern unendlich vielen Siegeln. Das Flugverhalten einer Krähe beispielsweise, die im Berliner Schloßpark Mülleimer am Wegesrand durchwühlt, ist derart komplex, hat derart viele Variabeln (Wetter, welche Menschen und welche Hunde sind dort unterwegs, was ist in den Mülleimern, ist sie gesund oder verletzt und so weiter und so fort), daß es mathematisch weder darstellbar noch vorhersagbar ist. Und zwar prinzipiell für alle Zeiten, da potentiell unendliche Variablen nicht im endlich beschränkten Rahmen darstellbar sind.

     Das Flugverhalten einer Krähe ist ein sogenannt „offenes“ System, Input unendlicher Art kann jederzeit mit dem Flugverhalten interferieren, im Unterschied zu beispielsweise „geschlossenen“ Systemen wie Schach, mit klaren Regeln und Grenzen, die deswegen von Computern im Prinzip trotz riesiger Datenmengen prozessierbar sind.

 

Jedes Kleinkind hat mehr Bewußtsein als der neueste Hypercomputer

 

      Man kann es nicht oft genug betonen: Ein vierjähriges Kleinkind hat mehr Bewußtsein als das letzte Update eines superneuronalen Netzwerk-Rechners. Es reagiert beispielsweise „ohne Knopfdruck“ ganz von selbst auf die Krähe, die den Pizzakarton aus dem Mülleimer im Park zerfetzt. Ein Computer reagiert nur, wenn man Reaktionsbefehle vorher eingibt. Die Genese des Bewußtseins ist nach wie vor ein echtes Mysterium, eines der ungelösten Welträtsel. Eltern verstehen dies vermutlich ohne Worte, wenn auch vielleicht nicht mit solchen.
(Empfehlenswert zum Thema ist übrigens dieses Buch: „Why machines will never rule the world“)

 

Offenes System vs. geschlossenes System

 

     Um nach diesem Schlenker in die Gefilde Künstlicher (Pseudo-)Intelligenz wieder auf das eigentliche Thema zurückzukommen. Das strukturelle Problem bei Dating Apps ist, daß ein prinzipiell offenes System – Partnersuche – behandelt wird, als sei es ein geschlossenes System wie etwa Schach, durch Filtern der Spielfiguren und Regeln domestiziert. Solange man sich dessen bewußt ist, daß man eine Art Rollenspiel mit Dating Apps veranstaltet, ist natürlich nichts dagegen einzuwenden. Und es kann sogar unterhaltsam wie jedes Spiel sein.

 

Wildlife oder Zoo, Lovestory oder Schnäppchen

 

     Nimmt man es aber zu ernst, und verwechselt man die Vorhersehbarkeit eines geschlossenen Systems mit den irrationalen und unvorhersehbaren Ereignissen eines offenen Systems ist die Chance groß, daß man nicht den Partner oder die Partnerin findet, die man braucht, die man unbewußt auch sucht, sondern nur die bewußtseinsmäßig vorab gefilterte Version, die die eigenen Neurosen bestätigt.

     Und das ist eigentlich jammerschade. Wie Zootiere, die den Käfig nicht verlassen, obwohl die Tür weit offen steht. Ein guter Test ist immer, wenn man erzählt, wie man sich als Paar kennengelernt hat. Wenn es klingt wie ein Schnäppchen bei Amazon, sollte man vielleicht doch noch einen neuen Versuch wagen.

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