Dieser Blog hat auf den ersten Blick einen sehr persönlichen Touch, weil es um meinen Vater Markku Lahtela geht, der ein in Finnland sehr bekannter Schriftsteller war. Dessen Selbstmord sich in der Nacht zum 1. August dieses Jahres zum 44. Mal jährt. Da dieses Datum auch sein Geburtstag ist, wäre er jetzt 88 Jahre alt geworden. Eine gute, wenn auch etwas späte Gelegenheit, ihn als Person ein bißchen aus dem Nebel der Zeit – und zwar positiv – zu befreien.
Anderseits geht es in diesem Beitrag auch um die ziemlich verzerrte Wahrnehmung, die man gerade für die Nächsten und manchmal Liebsten übrig hat. Und was man dagegen tun kann. Und insofern ist es wiederum eine recht allgemeine und gar nicht so persönliche Geschichte, um die ich hier kreise.
Ein weiterer Anlaß ist das kürzlich auf Finnisch erschienene Buch meines Halbbruders Johannes, wo es speziell um den Selbstmord unseres Vaters geht und was es bedeutet, ohne Vater aufgewachsen zu sein. Dazu muß man allerdings wissen, daß er beim Suizid vier Jahre alt war und unseren Vater praktisch nur vom späteren Hörensagen kannte. Deswegen ist es im Prinzip nicht erstaunlich, daß sein Versuch, Markku literarisch darzustellen, wenig weder mit seiner psychischen noch tatsächlichen Realität zu tun hat. Für Unbeteiligte scheint das alles zunächst nicht interessant und deswegen gehe ich jetzt hier auch nicht weiter auf Details ein. (Das habe ich in einem anderen, hauptsächlich für die finnische Presse bestimmten Text gemacht: „Thats My Brother, But Not My Father“ ).
Aber durch den erneuten persönlichen Vollkontakt mit diesem Thema wurde mir plötzlich klar, daß nicht nur um Wahrheiten unbekümmerte Autoren, sondern ganz viele Leute auf diese naive Weise Vorstellung und Wirklichkeit mischen: An Bruchstücke von Fakten assoziieren sich sofort klettengleich Storys und Einschätzungen, die mehr oder weniger ein Eigenleben entwickeln, das nichts, aber auch gar nichts mehr mit der ursprünglichen Wirklichkeit zu tun hat.
Diese Dynamik der Charakterisierung von Menschen hat einen totalen Sog und dürfte beispielsweise erklären, warum ich aus dem Stand mindestens ein Dutzend Leute kenne, die oft seit Jahrzehnten entweder ihren Vater oder ihre Mutter wahlweise hassen oder bemitleiden oder sie in irgendeiner anderen emotionalen Schublade wie auch immer geframt verschimmeln lassen oder einfach nur völlig genervt den Kontakt abgebrochen haben. Solche negativen Emotionen fließen – seltener, aber oft genug – auch in die umgekehrte Richtung: Väter und Mütter, die ihre Kinder abwerten, weil sie nicht so sind, wie sie hätten sein oder werden sollen. Jedenfalls kann in beiden Fällen von einer natürlichen Beziehung zwischen Eltern und Kindern keine Rede sein.
Fragt man nach, werden einem auf den ersten Blick auch oft gute Gründe für diese Situation gegeben. Aber – ich schließe hier allerdings explizit den weitverbreiteten sexuellen Mißbrauch als Ursache aus –, schaut man genauer hin, läuft es im Wesentlichen darauf hinaus, daß Söhne und Väter, Mütter und Töchter oder Verwandte allgemein oder natürlich auch Liebespaare die Wirklichkeit des jeweils anderen nur vorstellungsgesteuert, mit extremer emotionaler Schlagseite wahrnehmen. Die wirkliche Person ist fast immer durch Gefühle oder durch Einbildungen zu einer Karikatur verzerrt.
Um mit gutem (also schlechtem) Beispiel selbst voranzugehen: Mein Verhältnis zu meinem Vater war deswegen von meiner Seite vergiftet, weil er mir bei zwei Gelegenheiten, statt mich bei sich für eine Nacht aufzunehmen, im wahrsten Sinne des Wortes die Tür vor der Nase zuschlug. Wenn man in Städten, wo man nicht zuhause ist und also keine Bleibe hat, in meinem Fall war das Paris und Helsinki, vom eignen Vater entweder in ein billiges Hotel einquartiert oder direkt auf die Straße gesetzt wird, hat man natürlich Grund, nicht nur frustriert, sondern extrem verletzt zu sein. Und so brach ich damals dann auch wütend den Kontakt zu ihm völlig ab. Daß er sich wenig später erschoß, hatte wenig bis nichts mit mir zu tun, aber fror psychisch meine Beziehung zu ihm in dem negativen Zustand, in dem sie sich befand, für Jahrzehnte ein.
Und dieses tiefenpsychologische „Einfrieren“ ist genau der Punkt, wo mein Fall das Persönliche verläßt und allgemeinen Charakter bekommt. Sicherlich hatte ich jedes Recht der Welt, enttäuscht über das Verhalten meines Vaters zu sein. Viel abwertender, als daß allein der wohnungsmäßige Kontakt für eine Nacht vom Vater nicht gewünscht wird, kann es für einen Sohn kaum sein. Aber:
Das ist ein zwar banaler, doch extrem wichtiger Perspektivwechsel: Solange die seelische Verletzung dominierte, war mein Blick durch diesen persönlichen, wenn auch verständlichen Blickwinkel extrem getrübt. Mein Vater war ja nicht nur mein Vater – und als solcher eher eine unverantwortliche Gestalt –, sondern eben auch völlig unabhängig davon ein Mensch für sich selbst, mit tiefen Wurzeln und weiten Horizonten, die eben gar nichts mit mir zu tun hatten. Und diese Erkenntnis, daß mein Vater eben nicht nur mein Vater war, so banal sie daherkommt, ist insofern ein echter Hammer, da sie es erlaubt, die eigenen Eltern plötzlich als Personen völlig unabhängig von der Beziehung zu einem selbst wahrzunehmen.
Was die Voraussetzung dafür ist – und das scheint jetzt vielleicht richtig starker Tobak –, daß man jemanden überhaupt liebt. Denn solange ich jemanden nur in Bezug auf mich selbst wahrnehme und nicht völlig unabhängig von mir, reduziere ich die Person genau auf die Punkte, die beispielsweise ein „Match“ im Sinne von Dating-Apps bilden. Also Bedürfnisse befriedigen oder obsessive Leidenschaften erfüllen. Und das hat natürlich nichts mehr mit der „gesamten“ Person zu tun, auf die sich jede klassische große, aber auch die vielen „kleineren“ Lieben des Lebens immer bezogen haben. Ist nicht die komplette Person gemeint, inklusive Schwächen und beispielsweise körperlichen Schönheitsfehlern, dann spricht man vielleicht von Beziehung oder Affäre oder sogar Business, aber eigentlich niemals wirklich von Liebe. Weswegen das Wort im seriösen Sinn auch etwas aus der Mode gekommen ist, da Leute sich heutzutage lieber nur die Rosinen aus Menschen herauspicken statt auch die Pickel zu akzeptieren.
Das nur am Rande als kleine Erinnerung daran, daß die Wahrnehmung der gesamten Gestalt eines Menschen nichts mit der Befriedigung persönlicher Bedürfnisse oder Leidenschaften zu tun hat. Verknüpft man beides mit Gewalt, kommt es zum bewußtseinsmäßigen Kurzschluß, denn authentische Wahrnehmung und Obsession schließen sich gegenseitig aus. Die gegenwärtige Übersexualisierung des öffentlichen Lebens, daß etwa Regenbogenfahnen auch an Polizeistationen in Berlin hängen, drückt diesen spirituellen Blackout, der psychologisch eine echte Regression darstellt, symptomatisch aus.
Erst als ich in der Lage war, meinen Vater eben nicht nur als meinen Vater zu sehen, – nicht nur intellektuell, sondern von Herzen, was Jahrzehnte dauerte –, öffneten sich meine Augen für ihn als ganzheitliche Person. Das kann man wie gesagt auf alle menschlichen Beziehungen übertragen: Solange man Leute nur in Bezug auf ihre jeweilige Funktion wahrnimmt – sei es also Vater, sei es Geliebte oder Kellner oder Prostituierte oder Polizist oder Flüchtling und so weiter –, hat man bewußtseinsmäßig ganz reale Scheuklappen auf und sieht nur einen winzigen, von eigenen, geradezu wahnhaften Vorstellungen dominierten Ausschnitt.
Beispielsweise nahm ich einen namenlosen Obdachlosen oder einen Popstar wie Whitney Houston eher in ihren vielerlei Facetten wahr, verhielt mich also als der Dichter, der ich innerlich bin, aber bei meinen Vater funktionierte dies nicht. Was eben mit der emotionalen, die Sicht trübenden Verstrickung zu tun hatte.
Diese tiefenpsychologischen Scheuklappen sind ähnlich schwer abzuwerfen wie sich von einer schweren Sucht zu befreien oder tief verwurzelte Gewohnheiten zu brechen. Denn sie sind so eng mit der eigenen Identität verwoben, daß man überhaupt nicht mehr auf den Gedanken kommt, es könnte alles eigentlich ganz anders sein.
Als ich beispielsweise eine Handvoll Jahre nach dem Selbstmord meines Vaters im Winter auf dem Friedhof sein Grab suchte und eine Weile brauchte, es zu finden, weil der Grabstein flach und unscheinbar unter Schnee lag, saß ich dann zwar lange davor, aber meine Gedanken beschäftigten sich im Prinzip nur damit, wie er mich behandelt hatte. Und außerdem überlegte ich, ob ich die malerische Szenerie des Friedhofs für einen Roman verwenden könnte. Was ich natürlich tat. Okay, ich war Mitte zwanzig und insofern war Weisheit auch nicht zu erwarten. Aber trotzdem, auch im Nachhinein finde ich es frappierend, wie der subjektive Fokus selbst Jahre nach seinem Selbstmord noch bei mir dominierte.
Wie kommt man also aus dieser Falle raus?! Zunächst: Man kann natürlich auch drin sitzen bleiben, in gewißer Weise sind eingeschliffene Konditionierungen angenehm bequem, geradezu seelisch gemütlich wie das Räkeln auf dem Lieblingssofa. Wenn man sich aber weiterentwickeln will, muß man diesen Platz jedoch wohl oder übel irgendwann verlassen.
Und das kann man zum Beispiel dadurch tun, daß man einen nahestehenden Menschen versucht so wahrzunehmen, wie er unabhängig von der eigenen psychischen Perspektive wirklich ist. Das geht erstaunlicherweise, setzt aber voraus, daß man den Blick wirklich öffnet. Das ist leichter gesagt als getan, denn man muß plötzlich bewußtseinsmäßige Muskeln benutzen, die bisher vermutlich brach gelegen haben. Was anstrengend ist. Wer schon einmal Klimmzüge versucht hat, ohne über entsprechende Kraft zu verfügen, weiß, daß der Wille allein nicht ausreicht, um das Kinn, also das eigene Körpergewicht auch nur einmal über die Stange zu heben. Mit psychisch echten Herausforderungen verhält es sich ähnlich; das heißt aber auch, mit seriösem Training sind sie durchaus erfolgreich zu meistern.
Um diesmal mit wirklich gutem Beispiel voranzugehen, will ich in diesem Sinn eine kleine Begebenheit mit meinem Vater erzählen, die nicht von neurotischer Wahrnehmung verzerrt ist, sondern von beiden Seiten recht pur daherkommt.
Ich hatte gerade Abitur gemacht und war zu Besuch bei ihm im Sommerhaus seiner Frau in Finnland. Unser Verhältnis war wie immer nicht besonders innig, aber ich freute mich, in seiner Nähe zu sein. Manchmal gingen wir früh morgens angeln, wo wir dann schweigend im Ruderboot mitten auf dem See saßen. Wir suchten beide nicht wirklich das Gespräch, sondern angelten nur. Die berühmte finnische Schweigsamkeit. Aber das war für mich okay, immerhin war ich auf Tuchfühlung mit ihm. Ich sah ihn ja sonst das ganze Jahr über nicht, da ich in Berlin lebte und er in Finnland. Mittags lag ich oft auf dem Sofa und hörte mich stundenlang durch die Schallplattensammlung seiner wohlhabenden Frau, Klassik und Jazz. Abends kamen manchmal ein paar Leute zu Besuch und wir saßen am Lagerfeuer und aßen Fische, wenn wir am Morgen welche gefangen hatten. Und Krebse. Mittsommer eine Tradition in Finnland. Im Sinne von Vater und Sohn war es eher ein nüchternes Zusammensein. Ich war jetzt halt da und bald auch wieder nicht mehr. Ich gehörte formell als Sohn dazu, aber emotional nicht wirklich.
Das war die allgemeine Aura unserer Beziehung, an die ich gewöhnt war, weil ich es nicht anders kannte. Vor diesem unterkühlten Hintergrund stachen dann ein paar Minuten als untypisch und wirklich warmherzig heraus. Deswegen habe ich sie auch nicht wirklich vergessen, obwohl sie praktisch für Jahrzehnte in den Tiefen des Unbewußten verschüttet waren. Ich bemerkte zu meinem Vater, daß ich eigentlich einen Gürtel bräuchte. Meine Jeans rutschte ein bißchen – vielleicht war mir auch unbewußt in seiner Gegenwart der Appetit vergangen und ich hatte abgenommen, aber egal –, jedenfalls fackelte er nicht lange und stöberte aus irgendeinem Schrank einen alten Ledergürtel von sich auf.
Da er zu groß war – ich war damals knabenhaft schlank und er ein stämmiger Mann –, schnitt er ein Stück ab und schnitt sogar eine provisorische „Zunge“ am Ende des Gürtels hinein, damit ich ihn besser durch die Hosenschlaufen der Jeans ziehen konnte. Außerdem stanzte er ein paar zusätzliche Löcher hinein, so daß ich ihn wirklich fest um meine Hüfte schließen konnte. In einer natürlichen, nicht durch Scheidung und Distanz zerrütteten Familie wäre ein solches Verhalten des Vaters natürlich nicht der Rede wert, weil selbstverständlich. Aber in unserem Fall war eben das menschlich Selbstverständliche derart die Ausnahme, daß sogar die Erinnerung daran für mich lange völlig verdunkelt war.
Diesen sandbraunen Ledergürtel trug ich mindestens noch zehn Jahre nach seinem Selbstmord jeden Tag und mit Sicherheit nicht nur deswegen, weil er robust und praktisch war. Der Gürtel verkörperte für mich – allerdings unbewußt – die sonst selten erlebte Erfahrung, positiv als Sohn wahrgenommen zu werden, aber vor allem auch, daß mein Vater in diesen Minuten völlig präsent und spontan gewesen war, er wirkte ganz als er selbst. Ein Auffunkeln einer anderen, einer natürlicheren Seite seines Wesens, das sich zumindest mir gegenüber sonst oft hinter Alkoholmißbrauch und Desinteresse verbarg.
So war es jedenfalls plötzlich ein Zaubergürtel, weil er spontan und von Herzen gemacht worden war; ich fühlte mich unbewußt tatsächlich beschützt und geborgen durch ihn. Außerdem spiegelte er noch eine geheimnisvoll schicksalhafte Seite, die den Horizont der Vernunft für mich für immer sprengte: Zur gleichen Stunde als mein Vater sich in Finnland erschoß, schrak meine Mutter in Sylt im Hotelzimmer aus dem Schlaf, seinen Namen rufend und gleichzeitig öffnete am Strand von Kreta ein Mädchen mit ihren Fingern eben diesen Gürtel meines Vaters. Diese dreifache Synchronizität von Ereignissen – wo plötzlich mein Vater mit meiner Mutter und mir wieder eine spirituelle Einheit in der Zeit bildeten, trotz der räumlichen Zerstreutheit in alle Winde – war daraufhin für immer in diesem Gürtel und natürlich vor allem in meiner Psyche gespeichert.
Der Gürtel meines Vaters war dadurch psychisch extrem aufgeladen. Mit seiner Liebe, seinem Sterben, mit der tatsächlich telepathischen Verbindung meiner Mutter trotz Scheidung zu ihm; und sogar mit Sex. – Aber ich konnte diese Erinnerung an jene Episode, wo mein Vater diesen Gürtel für mich zurechtschnitt, wo er mich also tatsächlich spontan wie seinen Sohn behandelte, erst dann aus meinem Gedächtnis abrufen, aus der kerkerähnlichen Verdrängung befreien, als meine negativen Emotionen ihre Macht verloren hatten. Vorher hatte ich diese Begebenheit, die eine andere, eine mitfühlende Seite meines Vaters zeigte, einfach völlig vergessen. Obwohl ich den Gürtel täglich trug, blockte ich den emotional schönen Moment seiner Fertigung paradoxerweise bewußtseinsmäßig völlig ab.
Meine Vermutung ist, daß es den meisten Menschen strukturell ähnlich geht. Unreflektierte Verletzungen und Aversionen verzerren die Wahrnehmung auf die oft Nächsten derart, daß man in einem emotionalen Teufelskreis gefangen ist. Den man nur durchbrechen kann, wenn man die festgefrorenen Vorstellungen über Menschen durch fokussierte Wahrnehmung auf das, was wirklich passiert oder passierte oder sogar passieren wird, – sozusagen auftaut.
Das geht sicher nicht von heute auf morgen, aber irgendwann muß man einfach damit anfangen. Auch ohne dämonische Zaubergürtel-Erfahrungen. Jeder Versuch zählt. Dafür steht dieser Text.
2 Antworten
Die „dämonische Erfahrung“ hat Deinen Blick auf Deinen Vater stark verändert, allerdings die Änderung, wie hier beschrieben, bleibt Dein Blick noch ein Blick auf sein Verhältnis zu Dir.
Ich verstehe, was du meinst, aber es ist nicht ganz so. In der Begebenheit spiegelte sich eher etwas, eine andere Seite von ihm. – Aber ohne die konkrete Situation mit mir, aus meiner Sicht beschrieben, würde sich natürlich auch nichts spiegeln.