Lynne Cox, berühmte Marathonschwimmerin
Ob Meere, Seen oder Flüsse – natürliches Wasser hat eine intuitive Attraktivität für die meisten Menschen. Vor die Wahl gestellt, dürften sie in der Regel lieber ein Picknick am Flußufer veranstalten als auf einem IKEA Parkplatz. Anders als im gesunden Wald, der ähnlich entspannend auf die Psyche wirken kann, gehen aber etwa im See viel weniger Leute „spazieren“, – verglichen beispielsweise mit Läufern sind Schwimmer auch im Sommer, in der kalten Jahreszeit sowieso, eine Minderheit.
Bis vor einem Jahr habe auch ich zu jener Mehrheit gehört, die bei aller seelischen Nähe zum Wasser körperlich doch meist eher respektvollen Abstand gehalten hat. Ich hatte zwar bei Gelegenheit kleine Bade-Sessions eingelegt, sei es als Mutprobe kurze Dips in die eiskalte Ostsee im Winter oder deutlich entspannteres Baden in der sommerlichen Isar oder im warmen Atlantik, – aber es war trotz des Naßwerdens von Kopf bis Fuß gleichsam ein eher oberflächlicher Kontakt mit dem Medium Wasser. Am Ufer eines Sees zu spazieren war mir viel natürlicher als hineinzuwaten und zu schwimmen.
Was auf den ersten Blick ja auch nachvollziehbar ist, Menschen sind evolutionär fürs Land optimiert und nicht für Meere und Seen. Andrerseits gibt es neben dem körperlichen noch ein anderes evolutionäres Reich, das der Psyche. Und von dort spürte ich einen zunehmenden Sog, das Schwimmen im Pool, das ich vor einer Weile entdeckt hatte, für das Schwimmen in freier Natur zu tauschen.
Was viel damit zu tun hatte, daß es in den öffentlichen Schwimmhallen zugeht wie auf den deutschen Straßen, speziell Autobahnen: Weil die Bahnen oft überfüllt sind, so daß man praktisch im Stau schwimmt und dauernd aufpassen muß, nicht zu langsam oder zu schnell zu schwimmen, sind die Leute im Pool oft gereizt und aggressiv, ganz ähnlich wie im Verkehr. Wer sportlich krault, ist naturgemäß genervt von langsamen Brustschwimmern, die wiederum keinen Sinn für „rücksichtslose Raser“ haben. Aber selbst ein „mittlerer Weg“ zwischen den Extremen führt im Pool zu nichts, denn auch synchron angepaßt an die Geschwindigkeit der anderen zu schwimmen, ist kein Vergnügen, weil es eben selten der eigene Rhythmus ist.
– Es ist bei aller Liebe zum Schwimmen also oft etwas stressig und dazu kommt noch das Chlorwasser, das zwar manche Bakterien abtötet, aber auch nicht alle und vor allem der Haut eher abträglich ist. Zudem sind die Pools und Duschen und Umziehareale oft verdreckt und Geld kosten die Besuche oder Mitgliedschaften in Fitneßstudios oder Bädern natürlich auch.
Jedenfalls beschloss ich September letzten Jahres, mich wegen all dessen schwimmmäßig langsam Richtung freier Natur zu orientieren. In Berlin bot sich dafür der Schlachtensee an, der immerhin 2020 von CNN als einer der zwanzig schönsten Badeplätze auf der ganzen Welt bezeichnet wurde. Da ich ursprünglich aus Finnland komme, wo an zauberhaften Seen kein Mangel herrscht, schien mir das zwar etwas übertrieben, aber für Berliner Verhältnisse ist der Schlachtensee tatsächlich wunderschön. Ruhig gelegen, das Wasser ist klar, die Ufer naturbelassen, nicht nur Badegäste, auch Schwäne, Enten, Fische – von kleinsten neugeborenen Schwärmen bis zu großen Welsen und Hechten – , Reiher und natürlich auch die üblichen Jogger und Spaziergänger fühlen sich dort wohl. Sogar ein kringelnder sandbedeckter Regenwurm fiel mir mal auf, der dort mit sich identisch zu sein schien.
Aber es war eben nicht nur der Regenwurm am Ufer, der Reiher mit ausgebreiteten Flügeln, der dicht über die Oberfläche des Sees rauschte, oder der dunkle Zander, der mich beim Schwimmen einige Sekunden angstlos einen Meter unter mir als eine Art Schatten begleitete. All diese lebendigen Erscheinungen und Wahrnehmungen – und sie finden ununterbrochen statt, ich habe hier nur einige Beispiele beschrieben – sind keine voneinander isolierten Details, sondern sie verkörpern den Mythos von Natur: Ein Gefüge von Gestalten, wo alles seinen lebendigen Platz hat.
Dieser Eindruck wurde bei mir nicht nur durch die gleichsam herangezoomten einzelnen Wahrnehmungen ausgelöst, sondern auch in der Totalen: Als ich mit der S-Bahn das erste Mal zum Schwimmen zum Schlachtensee fuhr, bei Sonnenaufgang und kurz vor dem Bahnhof aus dem Fenster schaute und den bei bewölktem Himmel grauen See hinter Bäumen und Häusern aufschimmern sah, wirkte der See auf mich tatsächlich als ganzheitliche Erscheinung. Er hatte eine Aura, ähnlich wie Menschen, wenn man sich auf den ersten Blick verliebt.
Obwohl ich schon öfter am Schlachtensee in meinem Leben war, öffnete dieser kurze Blick aus dem S-Bahn-Fenster eine neue Dimension. Ich verstand plötzlich auch, warum ich vor Jahrzehnten einmal um den Schlachtensee spaziert war, mit der Idee, dort Inspiration für den noch fehlenden Titel eines Manuskripts von mir zu finden. („Letzte Obsession“ war dann das Ergebnis meines Spaziergangs). Ich hatte damals offenbar schon unbewußt die Gestalt des Sees gespürt, die mehr war als nur eine Wasseransammlung, denn sonst hätte es keinen Grund gegeben, von Berlins westlicher City 15 Kilometer mit dem Auto zu fahren, nur um eine Runde um irgendeinen See zu drehen.
Vor einem Jahr jedenfalls nahm ich die Aura des Sees selbst mit einem nur flüchtigen Blick aus dem Fenster der S-Bahn sofort wahr. Vermutlich auch deswegen, weil im Schlachtensee zu schwimmen als Premiere anstand und vor neuen Erfahrungen die Wahrnehmung ja meist besonders geschärft ist. „Das erste Mal“ ist immer etwas Besonderes, weil man mit der Essenz der Sache kommuniziert und „es“, was auch immer es ist, noch keine Routine geworden ist.
Das Wesen dessen, in einem See zu schwimmen, im Unterschied zu Pools und Freibädern, offenbart sich nüchtern ausgedrückt auch darin, daß mit der Freiheit in der Natur auch das Risiko steigt: Es schwimmen keine Rettungsringe im Wasser und den Boden sieht man ein paar Meter vom Ufer entfernt meist schon lange nicht mehr. Anders als etwa im Columbiabad in Neukölln, wo ohne Security offenbar inzwischen nichts mehr geht, hat der Schlachtensee als Zugabe daher noch einen gewissen ethischen Charme: Wer sich daneben benimmt, also statt zu schwimmen beispielsweise im tiefen Wasser versucht, „ungläubige“ Frauen anzugrabschen, dürfte bei solchem neurotischen Multitasking mehr oder weniger schnell dem ganz realen Untergang geweiht sein.
Nicht, daß der See irgendwelche politische oder religiöse oder sonstige Präferenzen hätte – ob Muslim, Tourist, Christ, Atheist, Alkoholiker, Buddhist, ob woke, fanatisch oder tolerant, ob dunkel oder hell pigmentiert, ob unterwürfige oder mutige Zeitgenossen, er trägt oder verschlingt jeden ohne Ansehen der Person und auch das „gefühlte“ Geschlecht kümmert ihn nicht. Klar ist jedenfalls, daß selbst bei kuschlig warmen Temperaturen der Schlachtensee nie überfüllt sein wird wie der Pariser Platz am Brandenburger Tor zu Silvester, weil eben die instinktive Scheu vor tiefem Wasser wie eine natürliche Barriere wirkt.
Auch wenn die meisten Menschen über diese Angst nicht reden, ist sie weiter verbreitet, glaube ich, als man vermutet. Denn wenn man kein geübter Schwimmer ist und die Mehrheit ist es nicht, ist es im offenen Wasser tatsächlich tendenziell nicht ohne Lebensgefahr. Und das spüren die Leute intuitiv. Es hat ja einen Grund, daß selbst im Schwimmbad, wo praktisch immer eine Armlänge entfernt die Bahnleinen hängen, an denen man sich festhalten könnte, trotzdem noch Bademeister ein wachsames Auge auf unsichere und ungeübte Schwimmer haben, um im Notfall eingreifen zu können.
Aber auch mit Erfahrung ist es nicht risikolos: Nach meiner Premiere im September letzten Jahres war ich immer ein paar Mal die Woche am See gewesen, hatte also schon etwas Vertrauen in mich als Freiwasser-Schwimmer gesammelt; – aber dann einmal Ende Oktober, als ich vom Ufer loskraulte, wurde mir von einem Moment auf den anderen schlagartig schwindlig, der Himmel schien in den See zu stürzen und die Bäume am Ufer begannen sich plötzlich kopfüber zu drehen, ich wußte für Sekunden praktisch nicht mehr, ob ich zum Atmen Ein- oder Auftauchen sollte. Es war beängstigend.
Ich kehrte sofort um, glücklicherweise war ich ja noch am Ufer und stakste leicht schwankend aus dem Wasser. Passiert war ein mir völlig unbekanntes Phänomen: Weil ich keine Ohrstöpsel trug, war das inzwischen im Oktober recht kühle Wasser in den Ohrkanal eingedrungen und die Kälte hatte den Gleichgewichtsnerv dort betäubt. „Swimmers vertigo“, las ich später irgendwo im Internet. Wäre mir das in der Mitte des Sees passiert, wäre möglicherweise auch dieser monatliche Blog schon längst mit mir von der Bildfläche verschwunden.
Ich betone dieses kleine, aber durchaus seriöse Risiko des Sees, der sich nach eigenen und nicht nach menschlichen Bedürfnissen ausrichtet, nicht nur deswegen, weil ich selbst eine Weile brauchte, um mich an die damit verbundenen Ängste zu adaptieren. Sondern weil die mythische Qualität des Sees oder noch mehr des Meeres natürlich genau von dieser letztlich unheimlichen, weil potentiell verschlingenden Tiefe gespeist wird. Selbst wenn man ein olympiareifer Schwimmer ist, für den Moment liefert man sich im offenen Wasser einer Umgebung aus, die noch nicht völlig vom Menschen dominiert ist wie etwa ein Park in der Stadt. Das damit verbundene Restrisko ist der Preis der Freiheit.
Das subjektiv doch recht begrenzte Ego taucht im Wortsinne in eine größere Welt ein, in der man nicht nur schnell völlig die Orientierung verlieren kann, bei Sturm und Wellengang beispielsweise, die einen aber auch trägt, wenn man sich wirklich dem Element hingibt. Wenn man, wie es klassisch heißt: das „Wasser nicht bekämpft“, sondern „es fühlt“, wie es an den Fingerspitzen, am Kopf vorbeigleitet, an den Waden, überall und wo Achtsamkeit auf den Moment und die Umgebung keine esoterische Floskel mehr ist, sondern reale Notwendigkeit und als Zugabe ziemlich bewußtseinserweiternd.
Denn im offenen Wasser und selbst in einem eher kleinen See wie dem Schlachtensee, wird man mehr oder weniger gezwungen, wenn man sich nicht krampfhaft abstrampeln und mühevoll behaupten will, sein großes oder kleines Ego sausen zu lassen und sich harmonisch an die Welt anzupassen, durch die man schwimmend gleitet. Man bekommt durch das umfließende Wasser ein authentisches und intuitives Empfinden dafür, was es bedeutet, selbst Teil der Natur und nicht ihr Herrscher oder Benutzer zu sein. Man ist beim Schwimmen im See vereint mit ihr, nicht isoliert von ihr, nicht nur beobachtend, nicht sich für etwas Besseres haltend.
So gesehen hat das Schwimmen in sogenannt wilden Gewässern, wozu auch der Schlachtensee mitten in Berlin gehört, die Qualität einer Taufe, – ohne Kirche und Priester, ohne Gurus und Rituale, aber durch die Natur: Man erlebt eine andere Welt als jene alltägliche aus Sachzwängen und den üblichen persönlichen Obsessionen. Der Himmel spiegelt sich nicht nur optisch im Wasser, man fühlt sich nach dem Schwimmen auf eine seltsame Weise wie neugeboren, körperlich sowieso, aber auch psychisch ist es unglaublich befreiend. Im Unterschied zu Drogen, also Substanzen, die das menschliche Bewußtsein chemisch manipulieren, sei es Ayahuasca oder Marihuana, Kokain oder Alkohol, ist der durch Schwimmen in der Natur erzeugte Rausch ganzheitlicher, gegenwärtiger, heilender.
In diesem Sinne verlinke ich hier einen wirklich selten schönen Kurzfilm, der auch ein bißchen um die hier beschriebene Erfahrung kreist. Vor allem aber zeigt, daß Wild Swimming so viel mehr ist als nur eine weitere der endlosen Fitneß-Varianten. Obwohl es dort nicht der Schlachtensee ist, sondern der Snowdonia Nationalpark in Wales, ist es von der Aura her in gewisser Weise doch auch der Schlachtensee: „HYDROTHERAPY – Overcoming a life changing illness through wild swimming“ .