Vor fast zwanzig Jahren spazierte ich mit meiner damaligen Frau im Schloßpark Charlottenburg. Sie hatte wie so viele andere vor und nach ihr die „Kraft der Bäume“ entdeckt und umarmte gerne robuste und ältere Exemplare, wo immer sie ihnen begegnete. Ich umarmte lieber sie, Scheidung war daher irgendwann unausweichlich, aber das ist eine andere Geschichte. Jedenfalls fiel mir auf, als sie ihre Arme um die Rinde legte, daß in ungefähr zwei Meter Höhe in den Stamm ein Nagel eingeschlagen war, an dem eine kleine Plakette mit einer eingravierten Nummer hing. Nummer „40“.
Es mag übertrieben anmuten, aber ich war innerlich unangenehm berührt von dieser Kennzeichnung des Baums. Auch wenn ich damals keine Ahnung hatte, daß praktisch jeder Baum in Berlin kartografiert ist – ähnlich wie Eintragungen im Grundbuch für Immobilien gibt es ein sogenanntes Baumkataster –, war mir vage klar, daß es viele praktische Gründe gibt, die Logik von Hundemarken auch auf Bäume anzuwenden. Die genaue Identifizierung und Lokalisierung per Nummernplakette am Stamm dürfte beispielsweise die Pflege eines kranken Exemplars erleichtern, da man einem Mitarbeiter des Grünflächenamts nicht umständlich erklären muß, wo genau der besondere Baum nun gerade steht, wie er aussieht und so weiter. Stattdessen reicht eine Nummer und gut ist.
Aber es war eben nicht gut für mich. Des nachvollziehbar praktischen Aspekts zum Trotz empfand ich die Plakette an der Rinde spontan als eine Art spiritueller Schändung. Denn der Zauber des Baums, also das, was Menschen Bäume und nicht Straßenlaternen umarmen läßt, liegt ja gerade darin, daß er Ursprünglichkeit und natürliche Gestalt verkörpert. Im Vergleich zum Weihnachtsbaum Spiritualität ganz ohne Schmuck und Kerzenschein bietet. Ein spürbarer Hauch undefinierbarer namenloser Energie umgibt Eichen, Birken, Kiefern, Kastanien, Buchen und all die zahllos anderen Arten ganz von selbst; sie verströmen, wenn man sie in Freiheit wachsen läßt, eine Aura, die die alltäglichen Sachzwänge und persönlichen Obsessionen der Menschen relativiert und eben deswegen heilsam auf die Psyche und den Körper wirkt.
Nummern am Baum nivellieren genau diesen Unterschied zum humanen Hamsterrad, die authentische Gestalt wird durch das Nummernschild zumindest bewußtseinsmäßig entwertet, zu einem Objekt unter vielen degradiert, im Prinzip auf einer Stufe mit Waren aus dem Supermarkt oder Autos auf der Straße. Das ursprüngliche und zeichenlos Besondere des Baums verschwindet jedenfalls dadurch.
Das war mein Empfinden, das sich natürlich nicht in solchen analytischen Worten ausdrückte, das tun Empfindungen zunächst nie, sondern das sich in einer spontanen Geste zeigte: Während meine Frau den Baum umarmte, stellte ich mich neben ihr auf die Zehenspitzen, reckte meinen Arm hoch und riß die Plakette vom Nagel, „befreite“ sozusagen den Baum vom verunstaltenden Zeichen. Meine Frau umarmte ihn daraufhin mit einem Lächeln sogleich noch inniger.
Ich sollte dazu sagen, daß ich zu jener Zeit sehr vom Astrologen Wolfgang Döbereiner beeinflußt war, der, statt mit Horoskopen das Leben esoterisch schönzufärben, untypischerweise mit Astrologie kompromißlose Gesellschaftskritik betrieb. In einer Schärfe und mit einer lebendig verdichteten Sprache, die es durchaus mit Karl Kraus aufnehmen konnte. Man konnte seine Bücher deswegen praktisch auch dann mit Interesse lesen, wenn man nicht an Astrologie glaubte.
In seinen Augen herrschte schon damals – zwanzig Jahre vor den durchgepeitschten Coronamaßnahmen und Impfnötigungen, womit die angeblich „unveräußerlichen“ Grundrechte für den Einzelnen praktisch ausgesetzt wurden – in Deutschland eine kollektive Mentalität vor, in der jede unabhängige und authentische Person, die nicht im neurotischen Gleichschritt des jeweiligen Zeitgeistes mitmarschierte, mit Mißtrauen und Aggression betrachtet wurde.
Für ihn, 1928 geboren, der Hitler noch persönlich erlebt hatte – „körperlich eine Ruine“ –, war das psychische Mindset des Nationalsozialismus, und damit der fremdbestimmte und unterwürfige Zeitgenosse, keineswegs Vergangenheit, sondern schlummernde Gegenwart, jederzeit bereit, im neuen Gewand wieder in Erscheinung zu treten.
Symptom dieser Mentalität war in seinen Augen die Getriebenheit von Vorstellungen und Ideologien, die sich wie Schimmel über die Wirklichkeit legte und echte Erfahrungen verhinderte. Ein häufiges Zitat, das er benutzte – ich glaube, es war von Ralph Giordano –, ging sinngemäß so, daß von dem Augenblick an, wo das erste Mal das Bild eines realen Baums für ein Werbeprospekt eines Hotels benutzt, der Baum also zum kalkulierten Mittel, zum kollektiven Zeichen einer Vorstellung gemacht wurde, dieser dadurch chronisch seine authentische Gestalt verlor. Und diese Mutation des Baums im Bewußtsein der Bevölkerung sei die wirkliche, weil bewußtseinsmäßige Umweltkatastrophe.
Als jemand, der selbst einmal einen leidenschaftlichen Roman über die dominierende Allgegenwart der Zeichen – spezifisch auf Werbung bezogen – geschrieben hatte, „Zeichendämmerung“, fühlte ich mich in dieser Art des kritischen Denkens schnell zuhause. Das ist natürlich nur eine kurze und sehr unvollständige Skizze von Döbereiners geistiger Welt. Aber der Kontakt mit ihm und seinen Büchern – Transkripte seiner Seminare, die sprachlich extrem unterhaltsam und gleichzeitig komplex waren, man konnte sie wie gesagt fast ohne astrologisches Hintergrundwissen lesen –, hatte auf mich damals den Effekt, die Nummernplakette am Baum als echte Irritation wahrzunehmen. Die subtile Wirkung von Literatur in Aktion.
Wer Medienkonsum mit Wirklichkeitserfahrung verwechselt – früher Fernsehen und Zeitung, noch früher Höhlenmalereien und Rauchzeichen, heute Smartphone und Internet –, dessen Wahrnehmung dürfte vermutlich die Zahlenschildchen an den Bäumen kaum registrieren, und falls doch, als nicht der Rede Wert einstufen. Dem Baum bricht schließlich deswegen keine Zacken aus der Krone, man sieht auf den ersten Blick die Plakette sowieso nicht, – was soll also der ganze Wirbel darum?! Den nummerierten Bäumen gehe es doch gut, das sei doch das Wichtigste.
Ein leicht nachvollziehbarer Standpunkt, Common Sense in Reinkultur; und ich bin in vielerlei Hinsicht ein Fan vom coolen Alltagsbewußtsein, das den Ball eher flach hält. Speziell in diesen hysterischen Zeiten, wo in den Medien eine Katastrophe die nächste jagt und die Leute von Ängsten gepeitscht werden wie Blätter im Herbstwind.
Aber manchmal ist es so, und in diesem Fall mit den Bäumen ganz sicher, daß der wirkliche Common Sense paradoxerweise auf den ersten Blick spirituell und transzendent daherkommt. Ohne es eigentlich zu sein. Denn die Nummernschildchen an den Bäumen sind eben keine Phantasien, so wenig wie beispielsweise der zu allen Produkten zugeordnete Barcode, – auch in Bio-Supermärkten. Der Ausgangspunkt dieser Blogs ist also alltäglich real, zunächst völlig frei von jeder Transzendenz: Zahlenplaketten an Bäumen. Genauso real wie durch Bakterien oder Pilze oder Allergien verursachter Hautausschlag. Natürlich kann man damit irgendwie überleben.
Aber die Frage, um die es wirklich geht, sollte auch für den nüchternsten Blick erlaubt sein: Möchte man wirklich die totale Bürokratisierung der Natur? Denn genau dieses Bewußtsein nagelt man mit jeder neuen Zahl in die Rinde. So, als würden Menschen ihre Personalausweisnummer auf der Stirn tätowiert tragen. Das hätte verwaltungstechnisch bestimmt auch Vorteile, bei Behördengängen zum Beispiel oder Polizeikontrollen ohne Zweifel, aber es würde auch eine klare Botschaft vermitteln, wie man individuelle Personen wahrnimmt: als isolierbare Nummern. Und nicht als komplexe Gestalt, um den Bogen zum Anfang des Textes zu schlagen. So weit ist die kalkulierte Quantifizierung von Menschen noch nicht fortgeschritten. Aber bei Straßenbäumen in Berlin ist man schon länger etwas weiter.
Es gibt aber eine gute Nachricht: Im Schloßpark selbst hat man wohl auf unsichtbare GPS-Identifizierung der Bäume umgestellt. „Nummer 40“ ist wieder Baum ohne Brandzeichen. Das Problem der mißachteten Gestalt ist aber erst dann wirklich gelöst oder überhaupt erst lösbar, wenn jede Erscheinung, ob Baum oder Mensch, nicht als Zeichen für eine Idee oder Vorstellung, sondern als lebendig und geheimnisvoll in sich selbst wahrgenommen und wertgeschätzt wird. Das ist die schlechte Nachricht. Denn der gegenwärtige Zeitgeist, spezifisch in der Version von „Wokeness“, huldigt hysterisch dem isolierten Zeichen und nicht der Gestalt, die eben viel mehr ist als die Summe seiner offensichtlichen Teile.
Beispielsweise reduziert der Ausdruck „People of Color“, der ja eigentlich positiv und antirassistisch gemeint ist, paradoxerweise den Menschen in Wirklichkeit auf seine Hautfarbe, also auf ein isoliertes Merkmal, – und produziert damit das völlige Gegenteil von ganzheitlicher Gestalt und Freiheit von Vorurteilen. „Weiß“ hat plötzlich einen abwertenden Touch und ist damit die neue Version von „Neger“, was sprachlich von „negro“ kommt; also ist „Weiß“ emotional plötzlich das frühere „Schwarz“. Das ist keine Wortklauberei, sondern die psychische Realität von vielen Leuten, die sich für tolerant oder eben für „woke“ halten. Die unbewußte Aversion hat nur ihren Fokus, aber keinesfalls ihr Wesen gewechselt, das ist alles. – Haut ist natürlich ein sichtbarer Teil des Menschen, aber ihre spezifische Färbung stellt nur eine Eigenschaft unter vielen dar. Vor allem läßt die dermatologische Pigmentierung (soviel wissenschaftliche Sprache muß erlaubt sein) absolut keine, eben auch keine positiven Rückschlüsse auf den Charakter zu.
Solche Selbstverständlichkeiten überhaupt schreiben zu müssen, zeigt, daß wir das Zeitalter der Aufklärung offenbar verlassen haben. Das Smartphone in jeder Pfote scheint ein zweischneidiges Schwert zu sein: Einerseits erlaubt es praktisch sofort Zugang zu allen Wissensquellen der Welt, andererseits fördert es durch passiven Konsum bewußtseinsmäßig bequeme Unmündigkeit und erleichtert dadurch eine allgemeine und globale Gehirnwäsche.
Ich schweife ab. Oder auch nicht. Unabhängig von der eigenen Orientierung in Fragen aller Art – Politik, Religion, Traumata, Gesundheit, Ernährung, Sex, was es eben alles so an spannenden Themen gibt – sollte man jedenfalls hin und wieder einen Blick auf die Bäume in seiner Straße werfen. Haben sie Nummern, ist nicht nur das Paradies auf Erden noch sehr weit weg, sondern auch das allgemeine Bewußtsein für authentische Gestalt. Aber genau deswegen gab und gibt es und wird es sie immer als evolutionär notwendige Kompensation geben: Die Dichter und Denker, die Männer und Frauen aus allen Zeiten und Kulturen und Berufen, die dieser oft verlorenen Gestalt eine Stimme geben.
Diese verlorenen und verkauften Seelen können Menschen sein, und sehr oft sind sie es, aber eben auch seltsamerweise Bäume. Brechts Behauptung, nach Auschwitz sei es fast ein Verbrechen, über Bäume zu schreiben, ist – abgesehen von der arroganten Anmaßung, Autoren Themen zu diktieren – inzwischen auch inhaltlich falsch: Auch Bäume zeigen die Wunden der Zeit.