Sexueller Mißbrauch von Kindern für die Geilheit und Obsessionen von Erwachsenen hat viele Gesichter: seien es die pseudoreligiös lackierten Kinderehen des Islam; seien es pseudoaufklärerische Pädophilen-Bewegungen im Westen, Teile der Grünen beispielsweise in ihren Anfängen, die Sex mit Kindern als für diese befreiend propagierten; sei es der millionenfache und oft für immer im Dunkeln bleibende Inzest in ganz gewöhnlichen Familien, jahraus-jahrein, Tag und Nacht.
Und dann gibt es die erschütternden Extreme von organisiertem Mißbrauch, international operierende pädophile Netzwerke, geknüpft von oft bekannten und einflußreichen Personen aus Politik und Kultur, wo Kinder auf für psychisch gesunde Menschen nicht vorstellbare Weise benutzt werden. Manchmal bricht etwas davon schockartig in den Medien durch, die Fälle Dutroux in Belgien oder Rotherham in England oder Epstein in den USA etwa, aber nach einer Weile verblassen diese psychotischen Eruptionen des Bösen wieder im medialen Alltag.
Was nicht nur mit der Zerstreutheit des menschlichen Geistes zu tun hat, der affenartig von einem Ast zum nächsten springt, auf der Suche nach Unterhaltung und Bedürfnisbefriedigung, sondern auch damit, daß ab einem bestimmten Level von dokumentierter Grausamkeit bei den meisten eine Art instinktive Verdrängung einsetzt, da auch schon die ungefilterte Wahrnehmung von einer solchen Wirklichkeit traumatisch sein und die Psyche überfordern kann.
Womit ich bei dem gleichsam zeitlosen Aspekt von „Erinnerungen einer Kinder-Sexsklavin“ bin, weil das Buch von Anneke Lucas genau diese Verdrängung durch konkrete Darstellung von Verbrechen an Kindern zumindest für potentielle Leser aufhebt. Wobei ihre Triggerwarnung im Vorwort sehr ernst zu nehmen ist (und keine alberne Formalie wie bei manchen Filmen auf den üblichen Streamingplattformen etwa): Ausgeübter Sadismus, Vergewaltigung und auch Mord an Kindern werden konkret erzählt.
Aber und das ist entscheidend: All diese Verbrechen werden nicht als Schockeffekte dominant beschrieben, sondern eher geradezu beiläufig berichtet, als Teil der Story gewißermaßen, nicht als ihr Ganzes. Sie sind in den vergleichsweise normalen Alltag eines elfjährigen Mädchens integriert. Vergleichsweise, denn eine Mutter, die ihr Kind nicht nur zur Schule, sondern auch zu Kunden fährt, ein Lover, in den sie verliebt, der aber 10 Jahre älter ist und mit dem sie im Porsche von Belgien an die Côte d‘Azur reist, all das ist natürlich auch dann völlig irre und nicht altersgemäß, wenn sie verträumt Gitarrenmusik in den Armen dieses Liebsten hört.
Aber was Anneke Lucas mit der Darstellung dieser „alltäglichen“ Erinnerungen aus Eßgewohnheiten, Schwärmerei und Streiterei mit ihrer Mutter – auch eine für sie vergleichsweise eher belanglose Vergewaltigung durch einen Gleichaltrigen wird nebenbei berichtet – erreicht, ist die Einbettung des wirklichen Grauens in das sozusagen normale Leben. Auch dann, wenn ihr Leben kein normales für ein elfjähriges Mädchen ist, ist das für sie alltägliche Leben immer noch einen zumindest kleinen Quantensprung davon entfernt, daß sie Zeugin wird, wie ein Kind geköpft oder zum Spaß bei der „Jagd“ erschossen wird. Und Ähnliches, das ich aber nicht weiter beschreiben möchte.
Diese dargestellte Verschmelzung von Horror und Alltag schafft jene eigenartige Atmosphäre, für die Hannah Arendt den treffenden Ausdruck „Banalität des Bösen“ gefunden hat. Die psychopathischen Perversionen finden nicht in irgendwelchen räumlich oder psychisch entfernten Nischen der Gesellschaft statt, sondern im Hier und Jetzt. Auch wenn jenes Hier und Jetzt, weil Anfang der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts angesiedelt, eher ein Dort und Damals ist, ist die Aussage dennoch zutreffend: Realität hat immer Gegenwart und Ort, auch das Böse ist kein Paralleluniversum. Jedes Konzentrationslager hatte klare Geo-Koordinaten und wäre kein Problem für ein historisches Google Maps gewesen. Der Keller eines Mietshauses jedenfalls kann genauso Tatort sein wie das Schloß eines Adligen und auch die Täter sind keine öffentlich sichtbar markierten Zombies, sondern können Verteidigungsminister oder Hausmeister sein, geschätzte und geachtete Mitglieder ihrer jeweiligen Gesellschaft.
Genau in dieser Integrierung des Grauens in den Alltag liegt meiner Meinung nach die bedeutende und seltene Qualität des Buches „Quest for Love“. Denn es wäre vermutlich durchaus möglich, je nach Anspruch jedenfalls, es auf der rein literarischen Ebene zu kritisieren: Typisch für viele autobiographische, tagebuchartig gefärbte Texte sind Szenen und Sprache nicht besonders verdichtet und manchmal etwas langatmig. Wäre es Fiktion, würde es zumindest in meinen Augen erzählerisch nicht jenen magischen Sog erzeugen, der gute Literatur immer auszeichnet.
Ich sage das allerdings mit dem Vorbehalt, daß Englisch nicht meine Muttersprache ist und es stattdessen auch umgekehrt so sein könnte, daß mein Sprachgefühl dem Text einfach nicht gewachsen ist. Aber eine solche hypothetische Kritik ist dennoch in diesem Fall prinzipiell belanglos, selbst wenn sie zutreffen würde.
Denn „Quest for Love“ ist eben keine Fiktion. Und deswegen transzendiert dieser Text als Versuch der Darstellung einer Augenzeugin von unvorstellbaren Verbrechen an Kindern eben jede Literatur. Es ist stattdessen ein authentisches Dokument der tiefenpsychologischen Gegenwart der Menschheit – auch wenn es Anfang der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts spielt – und hat, der äußeren Form des Erzählens zum Trotz, keinen explizit literarischen Charakter. Was auch durch ins Buch eingefügte fotografische Nahaufnahmen von Narben an Armen und Beinen, verursacht unter anderem von Angelhaken, unterstrichen wird, die noch knapp 50 Jahre später vergangene Mißhandlungen sichtbar bezeugen.
Ich betone diesen dokumentarischen Punkt, weil zumindest ich beinahe in die Falle getappt wäre, den Text zunächst als Literatur, naiv als „Story“ wahrzunehmen, was aber das Erzählte, Verbrechen an Kindern in diesem Fall, relativieren würde. Weil es dann eben auch darum gehen würde, wie es geschrieben ist, schlecht oder gut, langweilig oder unterhaltsam und so weiter. Und genau darum geht es eben überhaupt nicht.
Behält man diesen wichtigen Unterschied – dominant Dokument und nicht Fiktion – im Hinterkopf, könnte dieses Buch dem aufmerksamen Leser zwei bedeutende Tatsachen servieren; nicht auf dem Silbertablett, sondern eher zwischen den Zeilen; die eine ernüchternd, die andere hoffnungsvoll.
Die schlechte Nachricht zuerst: „Quest for Love“ zerrt den globalen Narzißmus der Welt erbarmungslos ans Tageslicht. Daß die Schwächsten der Schwachen, Kinder – „Wegwerf-Kinder“ in der Terminologie der pädophilen Netzwerke –, derart skrupellos für persönliche Leidenschaften und Obsessionen geopfert werden können, ist ja nur möglich, weil eben diesen Leidenschaften und Obsessionen von den Erwachsenen selbst subjektiv keine Grenzen gesetzt werden. Weder allgemein ethisch noch persönlich menschlich.
Man hat es also mit zutiefst narzißtischen Charakteren zu tun, empathielos und egozentrisch. Ob es sich bei den Tätern um katholische Priester, islamische Gotteskrieger, beliebte Politiker, berühmte Stars oder das „nette“ normale Pärchen im Nachbarhaus handelt, – die tiefenpsychologische Schnittmenge all dieser äußerlich extrem unterschiedlichen Personen ist ein speziell sexuell überdrehtes Ego, das sein Maß und seine Grenze nicht mehr kennt oder niemals kannte. Völlig unabhängig von der äußeren Lackierung, die religiös, aufgeklärt, anarchistisch, satanistisch oder sogar wissenschaftlich angehaucht sein kann. Was übrigens ein Hinweis ist – eine kleine Abschweifung in aktuelle politische Gefilde –, warum es zum Beispiel auf den ersten Blick so völlig paradoxe Bewegungen gibt wie „Queers for Palestine“, deren Mitglieder aufgrund ihrer präsentierten Sexualität ja keinen Tag im Gazastreifen oder sonstwo im Einflußbereich radikaler Muslime überleben dürften. Aber auf der Metaebene sind sich diese oberflächlich extrem konträren Gruppierungen darin sehr ähnlich, daß Identität zwanghaft von Sexualität dominiert wird, nur halt mit gegensätzlicher Betonung. Aber die scheuklappenmäßige Verengung der geistigen Perspektive ist bei beiden recht gleich.
Die gute Nachricht des Buches ist aber diese: Es macht klar, wenn auch ebenfalls relativ erbarmungslos, daß man immer nur das Leben leben kann, das man zur Verfügung hat. Wenn ein junges Mädchen von der eigenen Mutter als sexuelle Ware an extrem sadistische Kunden verkauft wird, geht es zunächst nur ums Überleben. Und um nichts anderes. Dabei allerdings so viel innere Stärke und Identität wie möglich zu behalten, sich also psychisch nicht vollständig mit dem Grauen zu identifizieren, ist meiner Meinung nach das dominierende Leitmotiv dieser Erinnerungen.
Was tatsächlich ein spirituelles Statement von positiver und zukunftsträchtiger Kraft bedeutet. Und überraschenderweise auf der realen Ebene eine bekannte Allegorie aus der hinduistischen Mythologie spiegelt. Sie paßt zu gut zum Thema, deswegen hier eine lockere Kurzfassung davon, es geht um Shivas blaue Kehle, einige dürften die Story natürlich auch schon kennen:
Als beim Versuch, den Nektar der Unsterblichkeit aus dem Ozean zu gewinnen, die Götter und Dämonen diesen verwirbelten, stieg stattdessen tödliches Gift in riesigen Mengen hoch, das das Potential hatte, das gesamte lebendige Universum zu zerstören. Shiva, so geht die Legende, trank dann einfach das Gift, um die Welt zu retten. Was neben der mit ihm immer assoziierten Zerstörung auch zu seinem Job als Gott gehörte. Allerdings wurde seine Frau Parvatti Zeugin dieser selbstlosen Aktion und um ihren Mann nicht zu verlieren, hielt sie ihm die Kehle zu, so daß das Gift nicht vollständig und tödlich in seinen ganzen Körper dringen konnte, sondern nur seine Kehle blau verfärbte. Weswegen Shiva auf Bildern manchmal mit blauem Hals dargestellt wird.
Die psychologische Bedeutung liegt jetzt darin, unter anderem, daß man das Übel zwar nicht verdrängen kann, man es aber nicht vollständig schlucken muß. Da man es „nur“ in der Kehle hat, also nicht vollständig davon vergiftet ist, kann man es im Prinzip irgendwann, unter besseren Bedingungen, auch wieder ausspucken.
Und genau das hat Anneke Lucas mit diesem Buch gemacht. Sie hat die als Kind erlebten schweren Verbrechen lange genug mit sich herumgetragen, ohne sich damit völlig zu identifizieren, sie hat also ihre Identität im Kern bewahrt und hat dieses menschliche Gift mit diesem Buch nun sichtbar und öffentlich ausgespuckt. Was ein heilsamer Vorgang nicht nur für die Autorin sein dürfte, sondern auch für die Leser ist. Auch für diejenigen, die nicht persönlich betroffen sind. Denn es zeigt, um es mit Thomas Manns saloppen Worten zu sagen: „Das Leben ist eine zähe Katze“. Vor allem, wenn es die Wahrheit und intuitives Mitgefühl auf seiner Seite hat.
Natürlich bleibt zumindest theoretisch die skeptische Frage, ob die erzählten Dinge tatsächlich der Wahrheit entsprechen. Dies kann im Prinzip kein unbeteiligter Leser beurteilen, weil es letztlich eine kriminalistische beziehungsweise juristische Frage ist. Allerdings gibt es kein Motiv, jedenfalls keines, das mir einleuchtet, sich solche Geschichten aus den Fingern zu saugen.
Es gibt aber sehr viele Gründe dafür, die Erinnerung an erlebte Traumen aufleben und damit vielleicht auch heilen zu lassen. Ich gehe daher also von der grundsätzlichen Wahrheit der geschilderten Szenen aus, selbst dann, wenn sie in manchen Details durch die Erinnerung verzerrt sein sollten.
Erwähnenswert ist vielleicht noch, wie ich überhaupt auf das Buch gestoßen bin, da dieser Blog ja versucht, immer irgendwie aus dem persönlichen Alltag heraus seine Themen zu finden, um nicht nur allgemein motiviert über Gott und die Welt zu schreiben. Bei der Recherche für die Nebenrolle in einem Roman recherchierte ich kürzlich über Mißbrauchsopfer in der Yogaszene. Da ich selbst Ashtanga Yoga praktiziere – allerdings nur noch zuhause, nicht mehr im Studio – , brauchte ich nicht weit entfernt zu suchen: Dem inzwischen verstorbenen indischen Guru dieses Yogastils, Pattabhi Jois, wurden schon vor geraumer Zeit im Zuge der „Metoo“-Bewegung zahllose sexuell übergriffige Berührungen gegenüber Schülerinnen nachgewiesen, als „adjustments“, also Hilfestellungen in den Yogaposen, getarnt.
Eine der Frauen, die so von ihm befummelt wurde, war eben in einem Yogastudio Anfang der Nuller Jahre in New York – Anneke Lucas. Inzwischen eine erwachsene Frau, dem pädophilen Netzwerk ihrer Kindheit gerade so mit dem Leben entkommen und mit neuer Identität in den USA lebend. Im Unterschied zu vielen anderen allerdings konfrontierte sie den von vielen angebeteten und durchaus charismatischen Yogalehrer direkt danach mit seiner Tat, daß es nämlich in Amerika strafbar sei, Frauen im Intimbereich zu begrapschen. Was beim Guru immerhin zu der ertappten und gleichsam panischen Reaktion führte, ein Schuldeingeständnis im Prinzip, daß er eine Weile auf diesem Workshop überhaupt niemand mehr „adjustierte“.
Und hier schließt sich nun der Kreis der Psychosen, der Ferne Osten vereint sich tiefenpsychologisch mit dem Nahen Westen. Der tabulose Narzißmus in seiner sexuellen Variante ist vollständig global geworden und kann praktisch jedes Gesicht annehmen, er kann die Maske von traditioneller Spiritualität aufsetzen oder gleich die Fratze des Satanismus präsentieren. Allerdings öffnet sich dieser Teufelskreis durch die Globalisierung, dem weltweiten Zugriff auf Informationen potentiell auch, aus dem gleichen Kreis kann durch nüchternes Hinschauen und mutiges Benennen auch einer des Heilens werden.
Und diesen seltenen Weg, der eine Alternative zum passiven Opferdasein darstellt, wo das eigene Leben niemals mehr aus der Verstrickung mit den Tätern rauskommt, den hat Anneke Lucas mit ihrem Buch „Quest for Love“ gewählt. Tiefenpsychologisch ist es eine Art Mondlandung, da es die Fahne der Humanität dort wehen läßt, wo eigentlich zunächst nur unwirtliches Land sichtbar ist.
Mehr kann man eigentlich nicht machen. So gesehen ist es im Herzen ein zutiefst spirituelles Buch, aber hardcore realistisch und deswegen jenseits von Kitsch. Es setzt allerdings Leser voraus, die hart im Nehmen sind und kein psychisches Glaskinn haben.