Viele haben es ja schon mal irgendwo aufgeschnappt: Wenn man in der Quantenphysik ein Ereignis beobachtet, verändert es sich. Das berühmteste Beispiel ist vermutlich das Doppelspalt-Experiment: Schießt man ein einzelnes Elektron durch einen Doppelspalt, zeigt der Detektorschirm dahinter ein Wellenmuster, eine Interferenz an. Beobachtet („misst“) man aber das Elektron auf seinem Weg durch den Spalt, kollabiert diese Wellenfunktion und das Elektron verhält sich plötzlich wie ein einzelnes Teilchen, das Interferenzmuster ist verschwunden.
Ein sehr mysteriöser Vorgang, aber eine durch zahllose Experimente immer wieder nachgewiesene Erscheinung. Der alltägliche Spruch „Wenn Blicke töten könnten ….“, wo also das pure Anschauen in der Phantasie eine dämonische Macht hat, ist in der Quantenphysik kein Märchen, sondern Wirklichkeit.
Wenn schon in der Welt der kleinsten Teilchen Beobachten das Beobachtete beeinflußt, so ist es dann eigentlich nicht besonders erstaunlich, daß bei Menschen Anschauen als Aktivität, Fotografieren oder Filmen, auch einen direkten Einfluß auf das Angeschaute hat. Was ja jeder kennt: Sobald man gewahr wird, daß eine Kamera gezückt und auf einen gerichtet ist, verändert sich sofort das Verhalten. Nicht unbedingt äußerlich sichtbar, aber der innere Fokus verschiebt sich. Weg davon, was man gerade tut und hin dazu, wie es „rüberkommt“. Diese Verschiebung ist individuell natürlich unterschiedlich, aber sie findet statt. Bei Medienprofis wie Schauspielern oder Politikern genauso wie bei Leuten jenseits des Scheinwerferlichts, seien es Mönche oder Müllmänner.
Ein guter Schauspieler kann zwar „Authentizität“ gut spielen, aber gerade deswegen ist er oder sie vor der Kamera eben nicht authentisch. Paradoxerweise je authentischer der gespielte Ausdruck, desto weniger authentisch in Wirklichkeit. Denn würde man die Kamera wegnehmen, würde das Schauspielen sofort aufhören und der natürliche Charakter der Person würde wieder dominant.
Vor dem Siegeszug der sozialen Medien und daran gekoppelt der Smartphones waren Kamerakontakte für die Masse der Bevölkerung eher selten, beziehungsweise auf besondere Momente beschränkt: Partys, Hochzeiten, Siegesfeiern, Urlaubsschnappschüsse, Ausweisfotos und Ähnliches. Niemand, außer vielleicht professionellen Fotografen oder obsessiven Laien wäre auf die Idee gekommen, alltägliche Ereignisse wie Restaurantbesuche, Spaziergänge, Motorradfahren, Haustiere, Unfälle, Küsse, Schlägereien und so weiter dauernd und überall zu dokumentieren. Kameras waren teuer und vergleichsweise unhandlich, Filmrollen nicht billig, Entwickeln und Abzüge drucken lassen kostete auch, – der Aufwand wäre einfach viel zu groß gewesen. Besonders, wenn es sich um Banalitäten handelte.
Mit der globalen und erschwinglichen Verbreitung des Smartphones hat sich dieser „kamerascheue“ Zustand der Welt geändert. Sitzt man jetzt zu zweit, in der Gruppe oder sogar alleine in einem Restaurant, vor sich einen Teller mit Thaicurry oder was auch immer, ist es inzwischen Alltag, daß irgendwer auf die Idee kommt, entweder das Essen, die Gäste, sich selbst, den Blick aus dem Fenster oder die Kakerlaken auf dem Fußboden, die drei Sterne-Speisekarte oder das Ambiente, oder was auch immer gerade als Motiv paßt, – in den sozialen Netzwerken zu posten.
Was den meisten Leuten allerdings dabei nicht klar ist – und deswegen anfangs die Erwähnung vom Kollaps der Wellenfunktion –, daß sich eben auch die Realität, die sie da so filmen und fotografieren, genau in diesem Augenblick entscheidend ändert.
Als Beispiel für den Vorgang ein Klassiker: Ein frisch verliebtes oder gerade durch Logarithmen einer Dating-App digital verkuppeltes Paar sitzt beim Dinner in einem angesagten Restaurant. Seitlich am Tisch hängt ein Champagnerkübel, vor ihnen leicht perlende Flüssigkeit in den Gläsern, sowie ein kleiner Teller mit schimmerndem Sushi als Vorspeise. Die Frau greift zum Glas, der Mann zum Handy und sagt: „Moment! Und lächeln!“ Er macht ein Foto von ihr, postet es sofort auf „Instagram“ und „Facebook“ und dann greift auch er zum Glas. Und sie vielleicht, die Rollen tauschend, zu ihrem Smartphone.
Was durch diese „beobachtende“ (parallel zum Messen in der Physik) und zunächst unschuldig anmutende Handlung passiert, die kaum mehr als einige Sekunden gedauert haben dürfte, ist eine völlige Mutation der Situation. Statt die Zweisamkeit des Dinner-Dates zu erleben, auszukosten oder auch auszuhalten, „kollabiert“ durch das Fotografieren die authentische Privatsphäre. Weil jetzt der Bekanntenkreis ihres Gegenübers über die sozialen Medien in das Dinner indirekt miteinbezogen ist, werden sowohl der Mann als auch die Frau sich hundertprozentig anders verhalten als ohne das Posting. Das ursprünglich private Treffen ist in eine diffuse Halböffentlichkeit gezogen worden; in gewißer Weise sitzen plötzlich all die „Facebookfreunde“ des Mannes als virtuelle Zombies mit am Tisch. Das ist das eine.
Was natürlich bedeutet, das ist die Konsequenz daraus, daß jene echte Intimität, die ein Essen zu zweit ja eigentlich definiert, nicht stattfinden kann. Und auch nicht wird. Selbst wenn also dieses Pärchen die wildeste Nacht ihres Lebens danach haben sollte, wirklich authentische Nähe, die sich selbst genug ist, kann nicht mehr pur stattfinden, weil sie durch den Akt des Fotografierens und des Postens im Kern aufgehoben worden ist.
Das klingt vielleicht übertrieben, aber nur deshalb, weil man den Unterschied zwischen einer unveröffentlichten Begebenheit und einer veröffentlichten nicht mehr empfindet und deswegen die Konsequenzen nicht sofort versteht.
Deswegen noch ein anderes Beispiel. Ich gehe jetzt oft regelmäßig Eisbaden im Schlachtensee. Eine kleine Welt für sich, auch die Leute sind ein spezieller Schlag. Das eiskalte und auf Dauer schnell lebensgefährliche Wasser härtet ja nicht nur körperlich ab und verschafft nach dem ersten Schock einen paradoxerweise süchtigmachenden Kick, sondern erzeugt durch das Eintauchen eine seltsame seelische Einheit von Demut vor der Natur und innerer Stärke, weil man sich ihr für Momente völlig hingibt. Das ist schwer zu beschreiben und nur durch eigenes Erleben nachvollziehbar.
– Jedenfalls, angenommen ich würde meine Eisbad-Aktion filmen, um sie zu posten, dann würde genau diese innere und unbeschreibbare Erfahrung sich automatisch zu einer äußeren wandeln. Ich würde nicht nur meine introvertierte Konzentration auf den Moment beim Gefilmt-Werden verlieren, sondern auch der Zuschauer würde nur die Äußerlichkeit konsumieren: Nämlich, daß da irgendein Verrückter mit Badehose und Pudelmütze bei 2 Grad Celsius Wassertemperatur ein Bad im See nimmt. Das kann natürlich trotzdem kommunikativ und unterhaltsam sein – und dagegen ist ja nichts zu sagen –, aber die Essenz der Erfahrung, die psychisch und unsichtbar ist, verflüchtigt sich durch das Filmen/Posten sowohl bei demjenigen, der die Situation erlebt, als auch bei all denen, die diese Situation dann medial nachvollziehen.
Es sei denn natürlich, der Mann oder die Frau hinter der Kamera ist ein wirklicher Künstler oder Künstlerin. Aber solche sind rar gesät. Und selbst dann wäre trotzdem die innere Konzentration von mir, der bis zum Hals im Wasser steckt, wie gesagt vermutlich nicht mehr authentisch. Ich müßte also in so einem Fall ein sehr guter Schauspieler sein, der die innere Konzentration spielen kann. Oder tiefenpsychologisch völlig unbeeindruckt von der Kamera. Doch solche Leute sind sehr rar.
Künstlerische Gestaltung in den sozialen Medien hat aber im Prinzip sowieso Seltenheitswert; das Amateurhafte dominiert logischerweise, weil es eben nicht um Kunst geht, sondern um schnelle Kommunikation und Reizerzeugung. Ähnlich wie früher der altmodische Klatsch und Tratsch im Treppenhaus oder in der Kneipe. Was mit dem Smartphone in der digitalen Version leicht zu veranstalten und eben keine große Kunst ist.
In Analogie zur Quantenphysik könnte man es so ausdrücken, daß die Selfiemanie und das dauernde Posten via Smartphone-Dokumentation von allem und jedem die psychische, introvertierte, sozusagen ganzheitliche „Wellen“-Dimension von Menschen und Ereignissen „kollabieren“ läßt und nur noch den extrovertierten, äußeren „Teilchen“-Charakter des Lebens betont.
Und das ist, gerade im globalen Maßstab, keine Kleinigkeit, da es zu einer chronischen Entwertung des Augenblicks und der Psyche führt. Das Introvertierte wird für das Extrovertierte auf dem narzißtischen Altar der Likes, – die Sehnsucht nach Geliebtwerden-Wollen von so vielen wie möglich – geopfert. Überall, ununterbrochen. International und in tiefster Provinz wird aufgrund des dauernden Filmens und Fotografierens der jeweilige Moment nicht mehr so intensiv wie möglich in seiner Einmaligkeit erfahren, das dazugehörige echte Empfinden nicht mehr gelebt, sondern sofort als Sprungbrett benutzt, um damit die sozialen Medien zu füttern.
Was zu einer allgemeinen psychischen Abstumpfung gegenüber der Wirklichkeit selbst führt, da diese Mittel zum Zweck geworden ist, nämlich den, Aufmerksamkeit im Sinne des postenden Egos zu erwecken. Was aber natürlich der Wirklichkeit niemals gerecht werden kann, da sie dadurch zum narzißtischen Reservoir reduziert wird, aus dem das Ego schöpft und sich gleichsam betrinkt. Ich glaube, es war Ralph Giordano, der meinte, daß in dem Augenblick, wo der erste Baum für den Werbeprospekt eines Hotels fotografiert wurde, damit zumindest die Gestalt dieses Baumes vernichtet worden sei.
Das ist vielleicht etwas harsch, aber es zeigt immerhin das Problem an: Fotografieren und Filmen ist ein objektiver Eingriff in die Welt – spirituell ähnlich rabiat wie der Zahnarzt, der den Bohrer rausholt –, keine folgenlose Harmlosigkeit, nicht nur in der Quantenphysik.
Jeder kann diese Inflation des geposteten Augenblicks in den sozialen Medien bei sich selbst beobachten. Wenn man sich beispielsweise eine Stunde lange durch die Feeds von „X“ oder „Facebook“ oder „Instagram“ scrollt, fühlt man sich völlig unabhängig von den Inhalten eher früher als später ausgelaugt, leer, seelisch müde. Was logisch ist, da das Dauerbombardement äußerer Reize unbefriedigt läßt. Es fehlt die ganzheitliche innere „Welle“, die nicht nur isoliert über äußere Ereignisse und Begebenheiten mit der Welt kommuniziert, sondern direkten psychischen Kontakt über das innere Empfinden herstellt. Dieses Herz der Psyche wird als introvertierter Prozeß nicht über dauernde äußere Reize aktiviert, sondern durch Konzentration und Hingabe an die jeweils besondere Situation. Da verstört dann das Gefuchtel mit Smartphones und das Dauer-Posten eher und lenkt ab.
Je häufiger und unterhaltsamer die Posts, desto langweiliger und psychisch leerer daher paradoxerweise das Leben der Leute, das wäre so eine davon ableitbare Faustregel. Oder auch, wie es noch die vergangenen Generationen volkstümlich auszudrücken wußten: „Man merkt die Absicht und ist verstimmt“.
So sehr also Fotografieren und Filmen, Selfies und Clips ihren Platz haben, Unterhaltung und Information bieten, die aus der modernen Welt nicht mehr wegzudenken sind, so sehr ist es allerdings auch klar, daß man das Beste im Leben verpaßt, wenn man immer nur mit der Kamera unterwegs ist. Jedes Photon, das unbeobachtet seine ganzheitlichen Wellen schlägt, hat dann Mitleid mit dieser seltsamen humanen Spezies, die lieber Tag und Nacht Teilchen im medialen Getriebe ist als wenigstens einmal im Leben ohne Zeugen frei strömende, Gischt und freien Geist verspritzende Welle im echten Ozean zu sein. Weniger lyrisch ausgedrückt: Weniger Posten macht auch das eigene Leben gleich interessanter. Nicht nur für andere (weil man sich nicht mehr öffentlich selbst banalisiert), sondern witzigerweise auch für einen selbst.