Es gibt die Meinung, daß Print-Bücher angesichts der globalen Digitalisierung evolutionär ein aussterbendes Kommunikationsmedium sind. Dinosauriermäßig, – irgendwie schade, aber nicht zu ändern. Es wird meist technisch argumentiert: Ein normales Buch mit Farbcover und Text benötigt digitalisiert selten mehr als 10 Megabyte Speicher, oft sogar deutlich weniger, ein vernachlässigbarer Klacks also. Und da heute praktisch jeder ein Smartphone oder Laptop oder andere elektronische Geräte besitzt, die Text-Dokumente darstellen können, wie etwa der Kindle Reader, stellt sich die Frage, warum kostbare natürliche Ressourcen wie Bäume überhaupt noch für Papier, also Bücher verschwenden?! Oder ist das gedruckte Buch als gefügte Gestalt des menschlichen Bewußtseins vielleicht doch unersetzbar und einzigartig? Um solche Fragen geht es in diesem Beitrag.
Oberflächlich betrachtet leuchtet die generelle Abwertung der Printmedien ein. Die Online-Ausgaben von den üblichen Tageszeitungen, die die traditionelle Printversion für up to date Bürger mehr oder weniger ersetzt haben, sind ja ein gutes Beispiel dafür, daß Informationen auch ohne bedrucktes Papier unter die Leute zu bringen sind. Zum einen zeitnäher, also beispielsweise im Liveticker zu besonderen Ereignissen, seien es Wahlen oder Terroranschläge. Gegen diese hyperaktuelle Geschwindigkeit von Online-Nachrichten und Kommentaren ist jede Zeitung schon immer die von gestern und vergleichsweise als Information abgestanden. Und zudem ist es natürlich viel praktischer, News am Smartphone oder Laptop zu lesen, statt wie früher eine großformatige und unhandliche Zeitung aufzuschlagen und dabei möglicherweise den Espresso im Café zu verschütten.
Womit man beim Unterschied zwischen klassischem Buch und Zeitung ist, ohne den in der Tat die Tage des gedruckten Buches gezählt wären. Denn weil Literatur nicht mit der Präsentation von aktueller Information dealt, sondern grundsätzlich mit der Gestaltung und nicht der puren Wiedergabe von Tatsachen zu tun hat, spielt die Live-Variante von Informationen eine geringere Rolle. Minutenaktualität von Fakten und Meinungen, die der entscheidende Vorteil der Online-Nachrichten im Vergleich zu herkömmlichen Zeitungen ist, ist für Literatur relativ bedeutungslos.
Weil der Wert von Literatur nicht wie der von Nachrichten direkt an Aktualität gekoppelt ist. Einfache Beispiele: Shakespeare hatte keine Schreibmaschine für „Hamlet“, Hemingway keinen Computer für „Der alte Mann und das Meer“, Marquez keine iPhone für „Hundert Jahre Einsamkeit“, – trotzdem werden ihre Werke noch gelesen, sind trotz gewaltiger technischer Innovationen seit ihrer Entstehung noch im echten Kontakt mit der Gegenwart und trotz ihres Alters nicht veraltet. „Vita brevis ars longa“: Ihr Kriterium ist nicht zeitnahe Wiedergabe von Tatsachen, sondern Gestaltung von Wirklichkeit, mit einem Touch Zeitlosigkeit.
Hat man sich diesen Unterschied zwischen Literatur und Information wieder kurz vergegenwärtigt, könnte man natürlich immer noch denken, daß die Zeit der Bücher vorbei sei. Auch wenn Literatur, Weltliteratur gar, eine andere Kategorie darstellt als Zeitungen, was ändert das an der äußeren Tatsache, daß es praktischer und – je nach Strompreis natürlich – billiger ist, Texte digital abgespeichert am Bildschirm zu lesen, – auch gute, zeitlose, berührende, wahrhaftige, schöne oder wie immer man Qualität auch definieren möge?
Hier kommt jetzt eine Erfahrung ins Spiel, die das gedruckte Buch von Texten auf Bildschirmen aller Art unterscheidet. Auch wenn es die transzendentesten und flüchtigsten Dinge behandelt, von Gott oder Eifersucht, von Tiefenpsychologie oder Drogenabhängigkeit, von Gammawellen im Gehirn oder von der Brandung eines Ozeans ans Ufer erzählt, ob Romane oder Gedichte oder Sachbücher, – als pures Objekt hat das Print-Buch vergleichsweise die robuste Qualität eines Steins. Es steht für sich selbst, es existiert als eigenständige Materialisierung eines Bewußtseinsinhalts, man kann den „Content“ nicht beliebig löschen und alternativ anderen hochladen wie etwa bei irgendwelchen Lese-Apps für Smartphones. Auch in Millionenauflage hat jedes einzelne Exemplar paradoxerweise eine Aura, ist durch den jeweils spezifischen Text als einzigartige geistige Gestalt charakterisiert.
Während also ein digitalisierter Text schon allein durch die Erscheinungsform als Dokument einer App oder eines Programms grundsätzlich Austauschbarkeit signalisiert, eher ein virtuelles als ein reales Leben führt und zudem von der elektronischen Umgebung dominiert wird – in dem Sinn, daß das Smartphone oder der Laptop oder der Tischcomputer die Hauptsache ist und der Text nur eine Anwendungsmöglichkeit von vielen –, ist die unausgesprochene Message eines gedruckten Buches eine völlig andere. Das Buch präsentiert sich mit Selbstbewußtsein als Hauptsache, als gefügte Gestalt, die ihre Form gefunden hat. Es braucht kein Stromnetz, keine Batterien, es braucht keine Smartphones, keine Lesegeräte, kein aktuelles Betriebssystem, es braucht keine helfenden Krücken, sondern steht als Gestalt des Bewußtseins auf eigenen Füßen.
Natürlich braucht ein Buch bei aller Unabhängigkeit Leser, um seine wahre Bestimmung zu finden und nicht in irgendeinem Keller zu verrotten. Auch als Printmedium ist es mit Haut und Haar mit der Welt vernetzt. Übrigens nicht nur mit dem Internet, sondern wirklich mit der Welt. Das ist so ähnlich wie der Apfelbaum, der von Bienen bestäubt werden muß, damit er wirklich Früchte trägt. Das ändert aber nichts daran, daß der Apfelbaum zunächst ein echter Apfelbaum sein muß. So wie das Buch zunächst auch ohne Leser ein Buch ist. Das ist weniger banal als man vielleicht denkt. Denn es bedeutet, daß zuerst die Gestalt einer Sache oder eines Menschen kommt und dann erst der Nutzen, die Funktion. Was Leute, die sich hauptsächlich über ihre soziale Funktion, ihren Status definieren, weil sie ihre Gestalt, ihr Wesen, ihre echte Persönlichkeit in irgendwelchen ideologischen Kollektiven verloren haben, nicht gerne hören.– Hier gerät man jetzt allerdings in die verwirrenden Strudel philosophischer und religiöser Fragen und deswegen nach dieser kleinen Abschweifung wieder zurück zum gedruckten Buch:
Man kann es auf eine Reise oder ins Bett mitnehmen, es bleibt immer präsent als das, was es wirklich ist. Während „Krieg und Frieden“ von Tolstoi sich beispielsweise auf einem Smartphone sofort in einen „Garfield“ Comic verwandeln könnte, der wiederum mit einem Fingertippen vielleicht kurz zur „Psychologie der Massen“ von Le Bon mutiert, nur um daraufhin als „Japanese Cooking – A Simple Art“ auf dem Bildschirm zu erscheinen, – bleibt das gedruckte Buch „Krieg und Frieden“ wie ein Fels in der Brandung der Zeit stehen, als genau das, was es ist: ein Roman, so und nicht anders erzählt.
Ein gedrucktes Buch ist im Kern nicht beliebig manipulierbar: Man kann es zwar verbrennen, aber man kann nicht unbemerkt Stellen löschen oder austauschen; – was mit auf Bildschirmen erscheinenden elektronischen Texten kein allzu großes Problem darstellt. Weswegen sich Ideologen aller Art naturgemäß in der rein digitalen Welt wohler fühlen, weil man dort fast alles nach Maßgabe des eigenen und oft beschränkten Geistes formen kann.
Bücher verkörpern eine widerspenstige Authentizität und sind gerade in einer Zeit wie der jetzigen, wo die zwar praktische, aber nivellierende Austauschbarkeit der Dinge und Menschen (Dating-Apps, Car-Sharing, Uber Eats und so weiter) epidemische Ausmaße angenommen hat, so gesehen bewußtseinsmäßig paradoxerweise Avantgarde. Sie repräsentieren die Souveränität der gewachsenen individuellen Gestalt, die nicht mittels digitaler Manipulation nach politischen oder sonstigen Belieben fremdbestimmt werden kann. Das gedruckte Buch läßt sich mit etwas Phantasie durchaus mit dem selten gewordenen mündigen Bürger vergleichen, der selbst denkt und agiert, und nicht etwa wie ein Smartphone jeden beliebigen Inhalt – Dokumente und Apps – in sein möglicherweise noch von KI manipuliertes Bewußtsein hochladen läßt.
Damit keine Mißverständnisse entstehen: Natürlich spricht trotzdem überhaupt nichts dagegen, digitalisierte Texte, auch Literatur, auf dem Smartphone oder sonstwo zu lesen. Das ist oft praktisch, allein schon deswegen, weil man nicht so viel mit sich herumschleppen muß. Auch genau dieser Blogbeitrag beispielsweise ist ja nur online veröffentlicht. Aber es geht hier darum, warum Print-Bücher bleiben werden und nicht darum, warum digitalisierte Versionen ebenfalls Sinn machen. Was ja überhaupt keine Frage ist.
Das gedruckte Buch ist, um es zu wiederholen, eine verbindliche Gestalt und Manifestation des menschlichen Bewußtseins. Die gerade als Orientierung in der simulierten und digital vergänglichen Welt des Internets und der Dauerflutung der modernen Psyche mit unendlichen, sich sekundenschnell ändernden Informationen ein absolut notwendiges Gegengewicht darstellt. Auf dem weiten Meer in dunkler Nacht orientierten sich die Menschen in ihren Booten und Schiffen seit jeher an der Position der Sterne und nicht an dem einzelnen und ununterbrochenen Wellengekräusel. Bücher, in denen die echte Welt und nicht nur die eingebildete zwischen den Zeilen aufscheint, ob sie blendend hell oder kaum erkennbar leuchten, sind gleichsam solche Fixsterne auch für das moderne Bewußtsein.
4 Antworten
Schön.
Mir fällt aber einen Satz von Dir ein, den ich damals in den 80ern in „Ber!in“ übersetzte: in etwa, „Warum soll ich nicht ausgelesene Bücher wegschmeissen, so wie ich eine leere Zigarettenschachtel wegschmeisse?“
😉
Das klingt sehr den Achtzigern, Literatur als einmaliges Wegwerfprodukt 🤪 — Offenbar habe ich nicht nur mit dem Rauchen aufgehört, sondern auch sonst bewußtseinsmäßig neue Wege eingeschlagen 🙂
Der entscheidende Unterschied zwischen digitalen und gedrückten Medien ist die physische Manifestation. Digital veröffentlichte Nachrichten sind wie Zigarettenschachteln zum Konsumieren und Wegschmeißen gefacht, während solche Werke wie Faust nach einer in Form eines Buches in dieser Welt verlangen. So ungefähr 🙂
Guter Punkt, daß online-Produkte eher für schnellen Konsum statt echten Kontakt stehen. 🙏