Daß ich Ende November bei Sonnenaufgang im Charlottenburger Schlosspark auf einer Yogamatte am Ufer des Karpfenteichs sitze und meditiere, ist auf den ersten Blick etwas freakig und mit Sicherheit als Freizeitbeschäftigung nicht so weit verbreitet wie Joggen. Dieser Text wird das nicht ändern, aber er wird ein Licht darauf werfen, warum es vielleicht einen Versuch wert ist, Alltag und Smartphone für eine halbe Stunde oder so links liegen zu lassen und einfach zenmäßig bei Wind und Wetter zu sitzen. Und ich schreibe das als leidenschaftlicher Läufer, der sich wirklich gerne bewegt. –
Wir leben durch die globale Verbreitung des Smartphones, also dem Online-Dauerregen von sofort verfügbarer Information, Unterhaltung und Kommunikation, gegenwärtig in einem Zeitalter der permanenten Bewußtseinswäsche. Dies deswegen, weil der praktisch ununterbrochene dem Bewußtsein von außen präsentierte mediale Strom (via Smartphone, via Desktopmonster, via Apple Watches, usw.) die Menschen nicht mehr zur inneren Besinnung kommen läßt.
Stattdessen ist man nicht nur dauernd mit Inhalten, Meinungen, Emotionen konfrontiert, sondern süchtigmachend auch oft nur noch mit solchen, die die eigene Psyche, das eigene Leben positiv spiegeln oder unterstützen. Man ist nicht nur in seiner jeweiligen, seifenblasenmäßigen Vorstellungswelt gefangen, ob in den Straßen der Großstadt oder auf Wanderwegen im Wald, sondern man ist es erschwerenderweise auch immerzu und überall.
Vermutlich ist diese moderne Abhängigkeit speziell von der virtuellen Welt noch nicht als eigenes Krankheitsbild ins „Diagnostische und statistische Handbuch für psychische Erkrankungen“ aufgenommen worden (DSM-5-TR, „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Fifth Edition“); – aber unabhängig davon hat dieser Zustand, wo man potentiell pausenlos nach außen kommuniziert, etwa durch soziale Netzwerke oder indem man sich mit Online-Input wie mit Alkohol zudröhnt, tiefenpsychologisch den starken und beobachtbaren Effekt, daß der Blick nach Innen völlig verstellt und verdrängt wird.
Damit keine Mißverständnisse aufkommen, ein kleiner Einschub. Ich schreibe hier nicht als digitaler Asket; im Gegenteil, ich bin keineswegs immun gegenüber dem multimedial überall und immer ausgeschütteten zeitgenössischen Mana. Ich habe beispielsweise junkiemäßig alle Staffeln von „Game of Thrones“ oder „House of Cards“ in wenigen Wochen geschaut.
Jedenfalls, man muß nur einmal mit der Metro durch Bangkok oder mit der Underground durch London oder natürlich mit der U-Bahn durch Berlin fahren. Und man wird in der Mehrheit Leute antreffen, die ununterbrochen ins Smartphone starren, manche noch mit Ohrstöpseln auditiv verlinkt. Der Punkt ist keineswegs die Verteufelung unserer modernen Kommunikationstools Nummer eins, – Handys sind natürlich äußerst praktisch und im Alltag unverzichtbar.
Aber, und das ist ein offensichtliches Symptom unserer Gegenwart: Wenn die Aufmerksamkeit sich dominant und dauernd auf Online Inhalte richtet, gerade auch dann, wenn es eigentlich „nichts“ zu tun gibt (wie in der Bahn etwa, im Warteraum beim Arzt, im Supermarkt an der Kassenschlange und so weiter), dann wird der Blick nach Innen, also die ruhige Selbstreflexion, praktisch abtrainiert und durch konstante, äußerlich via Smartphone injizierte Zerstreuung ersetzt. Ganz ähnlich wie Muskeln, die nicht mehr benutzt werden, läßt exzessive Hinwendung auf äußere Reize die Fähigkeit zur inneren Besinnung verkümmern. Möglicherweise bis hin zur völligen Atrophie der Psyche. Was dann, dies ist ein politischer Nebenaspekt, gesellschaftlich leicht manipulierbare Untertanen erzeugt, da das persönliche Bewußtsein kein inneres Gegengewicht zur äußeren Welt mehr zu bilden imstande ist.
Die Hysterie während der Corona Zeit wäre vermutlich ohne die permanente online Bombardierung von Lebensgefahr, die auf Empfängerseite technisch das Smartphone bei allen Zeitgenossen voraussetzte, unmöglich gewesen. Warum? Weil auf der Straße oder sonstwo im öffentlichen realen Raum die Leute eben nicht wie die Fliegen starben. Jemand ohne digitale Vernetzung hätte überhaupt nicht verstanden, was vor sich ginge. Oder wäre mit einfach nur normalen Common Sense ohne 24/7 virtuell vorgegaukelter Realität viel skeptischer gewesen.
Für jede psychische Persönlichkeitsentwicklung ist die Fähigkeit, zumindest für Augenblicke im Strom des Lebens innezuhalten und mit einer gewissen Coolness die eigene Situation zu betrachten, und die anderer natürlich auch, absolut notwendig. Man kann weder sich noch andere beurteilen, weder die Gegenwart noch Vergangenheit noch Zukunft, wenn man – wie oft online – pausenlos von Moment zu Moment gepeitscht wird. Der sogenannte „mündige Bürger“ ist undenkbar ohne dieses kritische Urteilsvermögen, das immer aus einem bewußteinsmäßigen Ruhepol gespeist wird.
Im Yoga gibt es für diesen Zustand, der als Voraussetzung für ernstzunehmende Erkenntnis beziehungsweise Meditation begriffen wird, den Begriff „Pratyahara. Was soviel wie „Zurückziehung“ bedeutet. Zurückziehung der Sinne, die Wahrnehmung richtet sich fokussiert nach innen, auf welches Thema dort auch immer und blendet die äußere Welt momentan völlig aus. Modern ausgedrückt: man ist „offline“. Im Ashtanga Yoga gilt dieser Zustand als eins der acht unverzichtbaren Elemente für menschliche Vollständigkeit und Heilung und ist die mental notwendige Vorstufe zur Meditation. Ohne diese Fähigkeit zur Konzentration durch temporäre Ausblendung des alltäglichen Hamsterrads ist seriöse Erkenntnis unmöglich.
Okay, echte Meditation sieht natürlich schrecklich langweilig aus. Äußerlich passiert nichts, überhaupt nichts. Aber genau das ist ja die Voraussetzung dafür, daß die innere Welt überhaupt wahrgenommen wird und vielleicht in Bewegung gerät, die immer unbewußten Konditionierungen dem Bewußtsein aufdämmern und nicht mehr von zwanghafter Action verdrängt werden. Genau an dieser Stelle trifft sich übrigens moderne Tiefenpsychologie mit traditioneller fernöstlicher Spiritualität, – unterstützt durch uptodate Erkenntnisse in der Neurologie, die beispielsweise eine verstärkte und das Gehirn großflächig synchronisierende Aktivität von Gammawellen bei in Meditation geübten Personen feststellt; was unter anderem auf eine erfolgreiche Integration von unbewußten Inhalten hinweist, – das heißt, man ist beispielsweise psychisch nicht mehr so leicht von hochschießenden Emotionen zu kapern.
Dies sind gewiß keine völlig neuen Gedanken und so stellt sich die Frage, warum eigentlich so wahnsinnig wenige Leute daraus den einfachen Schluß ziehen, daß Meditation, ob unter einem Baum wie Buddha oder im Schlafzimmer vor dem Fenster, eine recht naheliegende Lösung dafür ist, wieder mal oder überhaupt erst zur Besinnung zu kommen?! Die zudem den Vorteil hat, daß man praktisch nichts an Ausrüstung braucht und immer und überall sofort loslegen kann?!
Ich kann mir eigentlich gleich selbst antworten: Ideen, selbst die inspiriertesten, führen selten zu Handlungen. Zwischen Gedanke und Tat tut sich bekanntermaßen ein Abgrund auf. Evolutionär auch ein sehr sinnvoller Mechanismus, da natürlich viele menschliche Ideen totale Schnapsideen sind. Ein Puffer oder sogar ein Abgrund zwischen Vorstellung und Verwirklichung ist per se nichts Schlechtes.
Aber ich habe diesen Abgrund tatsächlich übersprungen und begann vor einer Handvoll Jahren mit Meditieren. Und hier springt auch mein eher allgemeiner Text ins Subjektive, was aber so ähnlich zu verstehen ist, wie wenn in der Quantenphysik das Photon keine Welle mehr, sondern plötzliches ein einzelnes Teilchen ist. Der Inhalt ist gleich, nur die Erscheinung ist anders. Wenn ich mich unbescheiden oder demütig mit einem Photon vergleiche, will ich damit nur darauf hinweisen, daß allgemeine Theorien nur dann was taugen, wenn sie auch auf der konkreten, also persönlichen Ebene Wurzeln schlagen können. Ich meine, wozu sonst all die Mühe?! Um meinen Geist im sozusagen abstrakten Leerlauf zuzusehen, könnte ich auch Schach spielen. Was gewiß auch seinen Charme hat, aber jetzt nicht das Thema ist.
Daß ich also plötzlich mit Meditation anfing, lag keineswegs daran, daß mir ein Licht aufgegangen war. Ich hatte keinen schlauen Text wie zum Beispiel diesen gelesen und war auch keinem Guru begegnet, weder online noch live. Im Gegenteil war es sogar so, daß ich mit den meisten Leuten, die meditierten, überhaupt nichts anfangen konnte. Speziell, wenn sie es kollektiv in der Gruppe taten; eingebildete Langweiler, aber harmlos, so lautete damals mein spontanes Verdikt. (Mit Kollektiven habe ich es immer noch nicht so, weil meiner Erfahrung nach meistens dann zwanghafte Gruppendynamiken die jeweilige Erfahrung dominieren.)
Was aber dann passierte, war, daß ich mir in einem Yoga-Workshop für Kopfstand und ähnliche sogenannte Umkehrhaltungen nicht den Hals brach, wie ich befürchtete, sondern den großen Zeh. Möglicherweise ein robuster Wink des Schicksals, daß in Asanas (Yogaposen) nicht die Lösung aller Probleme liegt. Da ich von einem Tag auf den anderen weder Yoga noch Laufen praktizieren konnte, sondern mit meinen gebrochenen Zeh in einem orthopädischen Schuh durch die Gegend humpeln mußte, war ich zutiefst frustriert. Ich war immer körperlich irgendwie aktiv gewesen und plötzlich war ich zum Nichtstun verdonnert.
Und so kam ich dann auf die Idee, den Profis des Nichtstuns eine Chance zu geben und es notgedrungen mal mit Meditation zu probieren. Um wenigstens dabei an der frischen Luft zu sein, es war glücklicherweise Frühling, ging ich hinkend und vorsichtig eines schönen Morgens zum Spreeufer in der Nähe meiner Wohnung und setzte mich unter einen Ahornbaum. Als Sitzunterlage diente mir ein Kopfkissen, das ich zum Schutz vor der taufeuchten Wiese in einen Müllsack gestopft hatte. Darauf saß ich dann also, die Hände im Schoß und schaute mit halbgeschlossenen Augen, wie ich es in einem Youtube Video gesehen hatte, über das leicht gewellte Wasser der Spree.
Ich schaute ohne jede Erwartung auf eine bestimmte Stelle in ungefähr fünf Meter Entfernung im Wasser, wo sich die rosa Hausfassade vom gegenüberliegenden Ufer spiegelte. Manchmal trieb dort ein einzelnes Blatt oder eine Feder entlang. Auch einen feingliedrigen Wasserläufer sah ich da herumhüpfen. Die aufgehende Sonne erzeugte erste Lichtreflexe in den Wellen.
Was aber dann plötzlich in meiner Wahrnehmung stattfand, relativ schnell und mit ziemlicher Wucht, war sehr erstaunlich. Denn all diese visuellen Details, die ich reaktionslos auf mich wirken ließ, bündelten sich plötzlich zu einer lasergleichen Intensität und erzeugten eine völlig neue Dimension. Die treibende Schwanenfeder, das Ahornblatt, der Wasserläufer, die Sonnenreflexe, die gespiegelte rosa Hausfassade fusionierten vor meinem inneren Auge zu einer atemberaubend direkten Wirklichkeit; die einfach so war, wie sie war und direkt vor meinen Augen alle Konzepte, alle Ideen, jede Vergangenheit und Zukunft einfach durch reine Gegenwart völlig in den Schatten stellte.
Es war wie ein totaler Reset des Bewußtseins, als würde ich das erste Mal wirklich sehen, was ich sah. Gegen die treibende Schwanenfeder in der Spree einen Katzensprung entfernt wirkte meine Verstimmung darüber, mich nicht mehr wie gewohnt bewegen zu können, wie eine Halluzination. Ich realisierte intuitiv, daß die Gegenwart vor mir der gleichsam ewige Hafen war, zu dem alle Abenteuerreisen immer wieder zurückkehrten. Weniger lyrisch ausgedrückt: Ich erkannte bei meiner ersten Meditation – typisches Anfängerglück –, daß das ganze Universum sich immer im Hier und Jetzt ereignete, dauernd und überall und daß dies eben keineswegs ein Gleichnis war, sondern hardcore Realität.
Mein Bewußtsein war praktisch sofort von dieser neuen Erfahrung angefixt. Zudem sie den Nebeneffekt hatte, daß sich eine tiefe Entspannung auch in meinem Körper breitmachte. Wie eine exzellente Ganzkörpermassage. Parasympathische Tiefenentspannung und hyperwacher Bewußtseinsschub in einem, das war meine erste echte Meditationserfahrung. Wo gibt es diese Kombination sonst noch?!
Ich glaube fast, nirgendwo anders. Es dürfte einen Grund haben, daß sich Buddha auf der Suche nach Erleuchtung (aka: echter Erkenntnis) der Legende nach nicht mit Drogen vollgepumpt hat oder manisch Sport betrieb oder sexsüchtig war. Nach extremen Experimenten auch nicht mehr in Ernährung das Heil suchte, sondern am Ende alles aß, was ihm angeboten wurde. Und auch an „Retreats“ mit seinen asketischen Kumpels keinen allzu großen Gefallen fand. Sondern daß er sich irgendwann alleine und meditierend mit dem Vorsatz unter einen Baum setzte, erst dann wieder aufzustehen, wenn er Erleuchtung gefunden hatte. Was bei ihm geklappt zu haben scheint. Bis heute versuchen Menschen ja nachzuvollziehen, was ihm an Erkenntnis durch Meditation aufgedämmert ist. Jedenfalls, erst danach, also erst nach der „All-in“ – Meditation, wurde er wirklich zum „Influencer.“
Wer einen heilenden Puffer zu den Mühlen des Alltags sucht, die gerade auch online ununterbrochen mahlen und oft den gegenwärtigen Augenblick pulverisieren, und wer gleichzeitig neue Power und Intuition in sein Bewußtsein bringen möchte, sollte also vielleicht dann und wann radikal offline meditativ in sich gehen. Online und Offline ergänzen sich dann wie Yang und Yin. Und in der fortgeschrittenen Version nicht nur im stillen Kämmerlein, sondern sozusagen öffentlich in freier Wildbahn. Meditieren im Freien ist wie Laufen im Park: Man taucht wirklich in die reale Welt und nicht nur in die Vorstellung von ihr ein. Er oder sie hat dann nicht nur eine mächtige Tradition auf seiner oder ihrer Seite, sondern, und das ist eigentlich nicht zu toppen: die Gegenwart als solche.