Noch vor gut zwanzig Jahren konnte man in Berlin problemlos die unterschiedlichsten Leute zum gemeinsamen Abendessen einladen. Es gab zwar hin und wieder „eingefleischte“ Vegetarier oder Gäste, die bestimmte Lebensmittel wirklich nicht vertrugen, aber es wurde keine große Sache darum gemacht. Im Zweifel nahm man halt nichts vom Fisch oder trank Traubensaft statt Rotwein. Letztlich viel wichtiger als die speziellen Zutaten war der gesellige Aspekt des Essens. Der Akt der offerierten Gastfreundschaft transzendierte persönliche Vorlieben und Abneigungen. Quer durch die Generationen und Kulturen wurde allein die Tatsache, daß jemand für einen kochte als menschliche Geste der Sympathie und Wertschätzung empfunden. Wenn es auch noch schmeckte, umso besser. Aber auch wenn es nicht so toll mundete, war es kein Desaster. Shit happens, in der Küche sowieso.
Diese unausgesprochene Toleranz gegenüber Köchen und Zutaten ähnelte Buddhas Verhalten, der als Bettelmönch auch alles aß, was ihm in die Schale gegeben wurde; oder war wahlverwandt dem Koch Anthony Bourdain, der in seiner Sendung „No Reservations“ ohne Skrupel alles probierte, was ihm aufgetischt wurde, um dadurch Land und Leute wortwörtlich bis in die Eingeweide kennenzulernen. Daß Essgewohnheiten übrigens nicht das einzig entscheidende Kriterium für ein erfülltes Leben sind, erkennt man daran, daß Buddha in Frieden alt wurde, während Bourdain tragischerweise Selbstmord beging. Was schon mal eine kleine Warnung davor wäre, seine Identität nur ans Essen zu koppeln. Aber das nur am Rande.
Entscheidend war jedenfalls das Zusammenkommen. Ich kann mich erinnern, daß ich einmal, als wir eine wöchentliche Essensrunde pflegten, wo wir uns reihum bekochten und immer auch noch extra verschiedene Leute einluden, keine richtige Lust zu kochen hatte und deswegen im verspielten, nichtchristlichen Sinn von „Brot und Wein“ einfach nur Baguette, Parmesan, Olivenöl und Chianti servierte. Es war am Ende einer der schönsten Abende.
Solche spontanen Experimente sind im heutigen „woken“ Berlin praktisch nicht mehr möglich. Weil die grundsätzliche Toleranz beim Essen dramatisch und medial befeuert abgenommen hat: Man erwartet es inzwischen als selbstverständlich, daß der Koch – generisches Maskulinum: weibliche Köche trotz der grammatisch männlichen Form inklusive; auch die gegenwärtige Sprache versinkt in Intoleranz, aber das ist ein anderes Thema – Rücksicht auf die tausenderlei Befindlichkeiten der Gäste nimmt. Und zwar deshalb, weil immer mehr Menschen ihre Identität aus ihren Essgewohnheiten ziehen.
Die identitätsstiftende Liste von guten und bösen Zutaten ist endlos und umfaßt mehr oder weniger das gesamte Spektrum der bisherigen menschlichen Ernährung. Der Ketofreak möchte seine Frühstücksbrötchen aus Mandelmehl gebacken; der Veganer flippt vor dem medium-rare Entrecôte aus und besteht auf einem industriell produzierten Seitanfladen aus Weizeneiweiß; ein Produkt, das wiederum eine andere gesundheitsbewußte Schneeflocke, obwohl ebenfalls im vegetarisch-veganen Kosmos zuhause, nicht im Traum probieren würde, da es aus purem Gluten besteht. Während die Paleofrau vor einem Steak die Nase rümpft, das nicht mehr blutig, „blue“ ist. Wenn irgendwo Zucker hineingemischt wurde, zum Beispiel in Eiscreme, wird das Dessert nicht angerührt. Ungesüßte Reiswaffeln, pure Kohlenhydrate, Zucker also, sind allerdings seltsamerweise okay. Und natürlich gibt es auch noch Leute, die kein „Grünzeug“ essen, sondern nur Currywurst und Pommes mit „Schranke Rot/Weiß“ akzeptieren.
Außerdem im Angebot der internationalen Ernährungen unter zahllos anderen noch TCM, Low Carb, Rohkost, – oder rein religiös motivierte Diäten. So ist es gemäß der Tora des Judentums nicht „koscher“, Meerestiere zu essen, die keine Schuppen oder Flossen haben: Tintenfische und Garnelen sind beispielsweise tabu. Während es wiederum in der muslimischen Welt nur strenggemäß des Korans ist, „halal“, wenn das Rind für das Steak auf dem Teller geschächtet wurde, also langsam ausblutete. Es herrscht wirklich kein Mangel an Essensvorschriften und Diät-Empfehlungen auf der Welt.
Aber das war eigentlich schon immer so, jeder Mensch, jede Kultur hatte und hat ihre kulinarischen Vorlieben, teils religiös, teils gesundheitlich gemäß den Lebensbedingungen motiviert. Das gegenwärtig Neue ist, daß die schon immer aufs Essen projizierten Glaubensbekenntnisse ihre Verhältnismäßigkeit verloren haben und sozusagen im Leerlauf bei hoher, also fanatischer Geschwindigkeit durchdrehen.
Das überall heilige Prinzip der Gastfreundschaft beispielsweise (heute aka Tourismus) –ohne das in früheren Zeiten friedlicher Handel gar nicht möglich gewesen wäre– bestand ja nicht darin, daß man nur bestimmte Speisen Fremden servierte, sondern daß sie überhaupt etwas zu essen bekamen. Und oft das beste, was der Gastgeber zu bieten hatte. Und auch wenn der oder die Reisende zuhause Anderes gewohnt waren, natürlich akzeptierten sie zumindest temporär, sei es notgedrungen, aber auch als offizielle Geste des Respekts, was auch immer ihnen aufgetischt wurde. Essen war ohne viel Worte und selbstverständlich eingebettet in einen größeren Zusammenhang, in den der menschlichen Kommunikation.
Und genau dieser humane Horizont, dieser praktisch tolerante Aspekt speziell beim Dinieren schwächelt in den gegenwärtigen Zeiten, die von eingeforderter „Toleranz“ und präsentierter „Haltung“ medial nur so überquellen, im realen Leben vergleichsweise immer mehr. Essen verliert völlig die Bodenhaftung und wird für viele zu einer privaten und zwanghaft befolgten Religion. Mit der praktischen und ernüchternden Konsequenz: Daß es oft keinen richtigen Spaß mehr macht, für mehrere Leute zu kochen.
Thaicurry zum Beispiel. Für Veganer selbstverständlich ohne Fischsauce und Garnelen; für Paleofreaks Blumenkohl-„Reis“; für gesundheitsbewußte Tofuhasser Bio-Rinderfiletscheiben; für gebürtige Thai unter den Freunden klassisch mit Fischsauce und weißem Reis; für Vollkornapostel brauner Naturreis; für sehr empfindliche, ayurvedisch geschulte Gäste möglichst ohne Chilis und Knoblauch; aber für Hartgesottenene wiederum so viel, daß der Gaumen brennt; manche mögen auch keine Kokosmilch, sondern wollen Mandelwasser („Mandelmilch“) fürs Thaicurry. Und spätestens hier hat der Koch oder die Köchin keine Lust mehr und zieht die Einladung zurück. Oder lädt nur noch höchstens eine Person ein.
Denn man muß plötzlich nicht nur im normalen Sinn „gut“ kochen, sondern dauernd völlig unterschiedliche Diäten, oft auch noch gleichzeitig, bedienen. Ich habe es sogar bis zur Selbstaufopferung versucht. Die Einsicht, daß dieser Weg der falsche ist, kam mir, als ich für ein Sommerfest mit hauptsächlich veganen und mir größtenteils unbekannten Gästen vegane „Thunfisch“-Sushi mitbrachte. Ich hatte dafür über Nacht gehäutete Tomatenfilets in Algenwasser und Sojasauce und Miso eingeweicht, was ihnen tatsächlich ein leicht ozeanisches Aroma gab und auch eine täuschend ähnliche Konsistenz und Farbe erzeugte wie echter Thunfisch. (Der Geschmack war natürlich nicht wirklich derselbe. Roher frischer Thunfisch spielt in der Liga von Walderdbeeren, ein intensiver, nicht imitierbarer Geschmack.)
Allerdings sahen meine veganen Sushi derart echt aus, daß die meisten Leute sie eben genau deswegen nicht einmal ansahen, vom Anrühren und Probieren zu schweigen. Das war ernüchternd: Veganer, die nichts Veganes essen, weil es nicht vegan aussah. Aber dadurch wurde mir auch schlagartig klar, daß die meisten Diäten für die hardcore Follower völlig vorstellungsgeboren sind, nah am Wahn angesiedelt. Die authentische Realität der Zutaten, der reale Geschmack, die wirkliche Bedeutung für die Gesundheit, – all diese doch entscheidenden Dinge werden nur noch ideell, aber nicht aus der Erfahrung heraus bewertet. Liebe geht dann nicht mehr durch den Magen, wie das Sprichwort heißt, sondern sozusagen nur noch durch den Kopf. Beziehungsweise durch das Smartphone.
Denn das weltweite Internet, das durch das ständig präsente Smartphone auf daueraktiv für die Benutzer und Benutzerinnen geschaltet ist, hat neben vielen guten Eigenschaften die Schattenseite, daß man im Zweifelsfall nur noch die Informationen und Meinungen konsumiert, die dem eigenen Weltbild entsprechen. Kontroverse Ansichten und Fakten, ebenso wie die Menschen, die solche vertreten, werden ausgeblendet, weggeklickt, geghostet. Das Überangebot an Informationen für jedes Thema kann also sehr leicht und paradoxerweise zu einer völligen Verengung des Horizonts führen.
Und in dieser Sackgasse sind wir, zumindest was die angesagte Esskultur in den sogenannt woken Metropolen betrifft, auf jeden Fall angelangt. Da ich keineswegs in dieser Hinsicht ein Unschuldslamm bin – von den rein religiösen Essvorschriften abgesehen, habe ich so ziemlich jede Diät konsequent für eine Weile ausprobiert. Ich habe in meiner veganen Phase das Leder aus meinem Gürtel geschnitten, in meiner Paleozeit keinen Brotkrümel angerührt und im Rohkostrausch wäre ich möglicherweise auch irgendwann im Extremen gelandet und hätte tote, also ungekochte „rohe“ Ratten vom Straßenrand gegessen.
Ich kann also sehr gut nachempfinden, wie es ist, sich mit Ernährung hundertprozentig zu identifizieren. Allerdings wurde mir durch viele kleine Erlebnisse bewußt, daß strenge Diäten eine Obsession sind und menschliche Werte am Ende viel wichtiger. Ein letztes Beispiel dafür, stellvertretend für viele andere: Einmal servierte ein über neunzigjähriger entfernter Verwandter Mozzarella mit Tomaten und Basilikum als Snack für mich und meine Freundin, als wir zu Besuch waren. Weil ich gerade in meiner veganen Periode war, rührte ich es nicht an. Das tut mir immer noch leid, denn er hatte sich Mühe gegeben und es war wirklich nett gemeint gewesen. Von der Respektlosigkeit gegenüber dem biblischen Alter des Gastgebers ganz zu schweigen.
In diesem Sinn hoffe ich, daß alle zwar ihren Wegen und Diäten folgen, wie sie es eben für gut befinden, aber nicht zwanghaft und dauernd und um jeden Preis. Zumindest bei Einladungen wäre es ein zivilisatorischer Fortschritt, würde man einen Schritt zurückgehen und sich auf die alte Tugend der Gastfreundschaft besinnen. Die übrigens, was manche völlig vergessen zu haben scheinen, in beide Richtungen wirkt: Auch der Gast sollte versuchen, Freund des Gastgebers zu sein. Zusammengefaßt hieße das: Als Gast nichts einfordern, als Gastgeber nichts zurückhalten und wenigstens für einen geselligen Abend lang die eigenen Vorstellungen vom „richtigen“ Essen ruhen lassen.
Das wäre dann wieder gelebte und nicht nur gepredigte Toleranz.
4 Antworten
Danke für Deinen erhellenden und amüsanten Beitrag, Silvo!
😉
Lieber Silvo,
einige Gedanken zum neuesten Blogtext (über Essen), der nicht nur gut und amüsant geschrieben ist, sondern mir zum größten Teil aus der Seele spricht.
Essensfetischisten und Gender- und Pronomentyrannen gehen auch mir auf den Geist. Meine Grundhaltung dazu: Haben Sie nicht wichtigere Probleme (wenn das überhaupt Probleme sind)?
Identitätssuche… Ich erinnere mich an einer späteren Begegnung mit einem Schulfreund, mit der ich auf der High School eine „Suchende“ war. Er fragte mich jetzt, „Nun, hast Du Dich inzwischen gefunden?“ Ich darauf: „Ja, ich schob die Kartoffel beiseite und da war ich.“
Nun muss ich ein No-No begehen, nämlich einen Witz erklären (oder gleich zwei). In den USA kennt man diesen Witz:
Der Kellner, beim Abräumen: „Wie fandest Du den Steak?“ Restaurantgast: „Ich habe die Kartoffel beiseitegeschoben und da war er.“ Womit gesagt wurde: Der Steak war recht klein, wenn er so gefunden werden musste. „Gefunden“ benutzt der Witz eben in zwei Sinnen, und ja, der Wortwitz funktioniert sowohl auf Englisch wie auf Deutsch.
Diese Mäkler und Kleintyrannen wollen nicht nur eine Identität markieren und Aufmerksamkeit heischen, sie wollen auch ihre Gegenüber in Unrecht setzen. Auch wenn sie die Gastfreundschaft und die Sprache dabei zerstören.
Allerdings kenne ich jemanden, der die Zöliakie tatsächlich hat und vom Arzt diagnostiziert bekam. Seine Symptome: Hautauschläge, Nervenschmerz, Gelenkschmerzen usw. Er stimmte mir zu, dass Gluten-nicht-essen zu eine Modemasche geworden ist, sagte aber, dass diese Mode für ihn ihr Gutes hat: Es gibt jetzt im Supermarkt wesentlich mehr Lebensmittel und Körperpflegewaren, die er tatsächlich kaufen und essen oder benutzen kann.
Eines zu Gastfreundschaft, spezifisch die arabische. Ich habe einmal ein Buch übersetzt oder lektoriert (ich kann mich momentan nicht daran erinnern, welches) über die Reisen von Burkhardt am Persischen/Arabischen Golf im 19. Jahrhundert. Zu der Zeit war die arabische Seite des Golfes arm und lebte von Perlentauchen, Datteln Ernten und Piraterie. Die einzelne Stämme waren alle untereinander verfeindet. Aber als er ein Schreiben von dem Scheich eines Stammes and dem Scheich eines verfeindeten Stammes, der ihm, Burkhardt, empfahl, empfand der zweite Scheich es als seine Ehre und seine Pflicht, Burkhardt als Gast zu bewirten und anzunehmen.
Etwas zu Koscher und Halal: Sowohl Orthodoxe Juden wie praktizierende Muslims bestehen darauf, dass Tiere rituell geschlachtet werden, einschließlich, dass sie völlig ausgeblutet werden. Allerdings nicht am Teller und nicht langsam. Bei den Orthodoxen Juden muss das unter rabbinischen Aufsicht getan werden und das Messer muss ohne jegliche Scharte passieren. (Das wird per genauen Augenschein geprüft, nicht mit dem Mikroskop.) Orthodoxen Juden dürfen kein Blut essen, also auch kein Blutwurst und keine saftige Steaks. Die Regelung allein straft das christliche Mär Lüge, dass Juden Blut von Christenkinder brauchen, um Matzen zu backen. In Matzen kommt nichts als Mehl und Wasser, nicht einmal Säuerungsmittel (das ist ihr Essenz). Orthodoxe Juden dürfen vieles nicht essen, z.B. nicht Milchprodukte und Fleischprodukte gleichzeitig oder von den gleichen Geschirr, auch wenn es dazwischen gewaschen wird. Orthodoxe Juden besitzen vier Sätze von Geschirr, denn das Pesachgeschirr darf nicht in Kontakt mit Lebensmittel kommen, das gesäuerte Mehl enthält. (Wenn sie dazu noch Vegetarier sind, brauchen sie logischerweise nur zwei Sätze von Geschirr.) Das Resultat ist: Orthodoxe Juden speisen nicht bei anderen Leuten oder in Restaurants, es sei denn sie vertrauen, dass die andere Leute oder Restaurants genauso glatt (streng) koscher kochen und servieren, wie sich selbst.
Lieber Mitch,
vielen Dank für die Blumen und das ausführliche Feedback! Speziell die vielen Details der jüdischen Esskultur sind mir völlig unvertraut gewesen.
Vier Sätze von Geschirr! Noch viel krasser als ich vermutet hatte. Ein Grund mehr, dann und wann alle Regeln zu brechen.
– In der sogenannten Buddha-Diät, intermittierendes Fasten im Kern, (https://www.amazon.de/Buddhas-Diet-Ancient-Losing-Without/dp/0762460466)
gibt es das Prinzip, daß man einmal in der Woche vorsätzlich und unbekümmert ißt, wann und wozu man Lust hat.
In diesem Sinne …🙏