Vor ein paar Tagen fiel mir am Gendarmenmarkt eine Kellnerin auf, die gerade eines der schicken Bistros dort öffnete. Aber sie stellte in der Morgensonne nicht nur Stühle und Tische nach draußen, sondern platzierte auch drei entkorkte, leere Champagnerflaschen auf einen der Tische direkt an der Straßenecke als Blickfang. Eine clevere Idee: Champagnerflaschen assoziieren entspannte Partytime, und der eine oder die andere mochte davon geködert spontan dort Platznehmen.
Vielleicht weil ich gerade vom Schwimmen kam – mein Geist ist danach immer besonders verspielt und aufmerksam –, jedenfalls überlegte ich kurz, warum bisher niemand auf die Idee gekommen war, benutzte Teller statt Flaschen dort hinzustellen?! Was ja eigentlich darauf hinweisen würde, daß dort gut gespeist worden war. Meine innere Antwort kam schnell und ging ungefähr so: Klar können leergegessene Teller gute Küche bezeugen, aber das ist nichts Besonderes. Essen müssen und tun wir alle mehr oder weniger jeden Tag. Schmutziges Geschirr hat daher keine Aura, sondern ist einfach nur dreckig. Aber Party – Champagnerflaschen, keine Bierbüchsen – machen wir eben nicht jeden Tag, das ist was Besonderes. Deswegen werbetauglich. So weit so einfach. Geradezu banal.
Aber wie das manchmal so ist mit Gedanken: Sie stoppen nicht wie ein Segelboot bei Windstille, sondern nehmen ohne äußere Einflüsse von ganz alleine weiter Fahrt auf. Ich fragte mich also, was eigentlich das Besondere an Partys sei?! Getränke sind es letztlich nicht, auch nicht, daß man neue Leute kennenlernt. Oder daß die Musik super ist, vielleicht sogar live, doch auch das ist es nicht. Das spielt zwar alles eine Rolle, aber das Herz jeder Party, vom Kindergeburtstag am Nachmittag bis zum berauschten Tanzen im Morgengrauen ist ein veränderter Bewußtseinszustand. Man denkt weniger nach, man ist unkontrollierter, der Augenblick zählt und nicht so sehr die Vergangenheit oder Zukunft. Das heißt, die Flaschen auf dem Tisch, weil mit diesem befreiten Bewußtseinszustand unbewußt assoziiert, verkörpern, von allem Schnickschnack befreit, sozusagen das Paradies auf Erden. Nämlich das Leben im Moment, hellwach, vital, mit einem entspannten Augenzwinkern.
Angesichts der Verwüstungen, die Alkoholabhängigkeit in den Körpern und Seelen anrichtet, sollte man aber nicht das Symbol (hier Champagner) mit dem Symbolisierten (Freiheit) verwechseln. Wie jeder weiß, der schon unerfreuliche Begegnungen mit Säufern hatte, sind Alkoholiker wie alle Drogenabhängigen geradezu das Paradebeispiel von unfreien Menschen, ausgeliefert ihren emotionalen Impulsen, von psychischen Zwängen und natürlich physischer Abhängigkeit gepeitscht.
Dies ändert aber nichts daran, daß die symbolische Verheißung der Champagnerflaschen nicht die oft üblen Konsequenzen des abhängigen Saufens in ihren tausenderlei Formen sind, schrecklich chronischen und alltäglich vorüberziehenden, sondern eben die Erfüllung des Augenblicks mit Intensität und Freude. Jede Werbung für alkoholische Getränke arbeitet mit dieser Art „spiritueller“ Aura.
Und deswegen stoppte mein Denken auch hier noch nicht – nach dem Motto: „Uh, Alkohol ist schlecht, den hatten doch schon Buddha und viele andere weise Menschen auf ihrer Tabuliste“ –, sondern es tat sich die Frage auf, wie kann man diesen zutiefst positiven Bewußtseinszustand erreichen, den die Champagnerflaschen symbolisieren, ohne aber dabei am Ende bei den Anonymen Alkoholikern zu landen?!
Denn das Problem dadurch zu umgehen, wie viele Gesundheitsapostel es tun, indem sie einfach NUR den Alltag leben, einen nüchternen Tag nach dem anderen aneinanderreihen bis zum sicheren Tod, das ist natürlich nicht die Lösung. Partys ohne Alkohol oder andere Drogen sind erfahrungsgemäß oft keine Partys im eigentlichen Sinn, wo das Unbewußte durchbricht und manchmal erstaunliche Dinge passieren können, weil die Leute aus sich herausgehen, – sondern meist sehr kontrollierte Veranstaltungen. Small Talk und vegane Snacks beispielsweise; wer schon einmal eine Yoga-„Party“ sonntags um 12 Uhr mittags besucht hat, weiß, was ich meine. Nichts gegen gesellige Runden, und vor allem nichts gegen Yoga, aber Party meint natürlich was anderes als freundliches, aber doch zutiefst alltägliches und vor allem vom Ego kontrolliertes Geplauder.
Nun ist es so, daß es einen Bewußtseinszustand gibt, der das, was die Champagnerflaschen versprechen, aber bei Tageslicht betrachtet nicht halten, Freiheit und Präsenz, tatsächlich einlöst. Es ist weder eine uralte Droge aus den Urwäldern des Amazonas noch etwas chemisch genial neu Zusammengemixtes in Hightech-Laboren.
Es ist erstaunlicherweise das, was psychisch passieren kann, wenn man eine längere Zeit meditiert. Mit „längere Zeit“ meine ich sowohl die einzelne Session als auch die Monate und meistens Jahre, die man es insgesamt schon macht. Denn die potentielle Konsequenz des Meditierens stellt jeden Drogenrausch völlig in den Schatten. Wie alle guten Sachen ist es mit Worten nicht wirklich zu beschreiben. Man kann es nur vage andeuten. Es ist ungefähr so, als würde sich ein leichter Schwips mit extremer Konzentration mischen, oder als würde der berühmte Flow beim Laufen stattfinden, ohne daß man überhaupt einen Meter laufen muß. Oder als würde man auf einem psychedelischen Trip schweben, ohne ihm aber ausgeliefert zu sein. Das klingt etwas seltsam, besonders wenn man noch nie meditiert hat. Es klingt möglicherweise noch seltsamer, wenn man es bereits versucht hat, aber nichts Gescheites dabei rausgekommen ist.
Niemand, der weltliche Genüsse wirklich kennt – und damit meine ich schon die gesamte Bandbreite von „sex and drugs and rock and roll“ –, wird sich im Zweifelsfall mit einem Abklatsch davon zufriedengeben. Deswegen ist die Behauptung, daß Meditation ein partytaugliches Bewußtsein hervorrufen kann, schon eine ziemliche Ansage. Andererseits ist es aber auch gar nicht so verwunderlich. Denn eine richtig gute Party und echte Meditation haben eine verbindende Gemeinsamkeit: beide erzeugen Angstlosigkeit.
Wer nie oder selten meditiert hat, mag sich darüber wundern, daß auch Angstlosigkeit statt nur Klarheit oder Entspannung eine wesentliche Charakteristik von Meditation ist. Und doch ist es so. Jeder hat sicher schon mal den Ausdruck gehört: im „Hier und Jetzt“ zu sein. Wer aber direkt an die Gegenwart andockt und dort verbleibt, Sekunden, Minuten, Stunden –, der oder die hat für diese Momente eben keine Angst, weil Angst immer an die Zukunft gekoppelt ist. Angst „vor“ etwas, das passieren „könnte“. So wie beispielsweise Haß immer an die Vergangenheit (etwas „ist passiert“) gekoppelt ist. Weswegen auch Haß durch Meditation temporär beendet wird. Aber bleiben wir bei Angst, damit es nicht zu kompliziert wird.
Und warum ist nun Angstlosigkeit für eine gute Party entscheidend? Weil Angst – sei es, sich zu blamieren, sei es zu häßlich oder zu langweilig zu sein oder was auch immer für Ängste eben existieren – jegliche Leichtigkeit vertreibt und statt dessen Krampf und Anspannung erzeugt. Warum es vielleicht schlechte Tänzer gibt, ohne Zweifel, aber praktisch keine ängstlichen.
Angstlosigkeit alleine ist natürlich nicht ausreichend für eine gute Party. Mörderische Psychopathen haben möglicherweise auch keine Angst. Aber das andere parallele Merkmal von Meditation und guter Party ist die Lebensfreude im Augenblick. Man ist völlig offen und anderseits völlig bei sich selbst. Man akzeptiert die Welt, wie sie jetzt in diesem Moment und an diesem Ort sich darbietet. (Das tun mörderische und sonstige Psychopathen nicht.) Man akzeptiert sie hundertprozentig in ihrem So-Sein. Keine gute Party ist wirklich gut, wenn jemand beispielsweise an der Musik, an den Gästen, an den Getränken oder an was auch immer herummäkelt. Gute Party und Unzufriedenheit schließen sich absolut aus. Ebenso wie man nicht meditieren kann, nicht einmal eine Sekunde lang, wenn man den gegenwärtigen Moment nicht wenigstens für diese eine Sekunde hundertprozentig akzeptiert.
Nachdem man sich mit der theoretischen Möglichkeit angefreundet hat, daß Meditation tatsächlich eine extrem partytaugliche Komponente besitzen könnte, ist es jetzt an der Zeit für ein praktisches Experiment. Denn behaupten kann man natürlich viel. Noch geduldiger als das sprichwörtliche Papier ist inzwischen in diesen digitalen Zeiten jeder Bildschirm, der wie die Sonne alles ohne Wertung aufscheinen läßt: Sinn, Unsinn, Wahnsinn und alle Schattierungen dazwischen. – Ich schweife ab.
Also, jeder kann einen unterhaltsamen kleinen Selbstversuch machen, um den möglichen Effekt von Meditation sofort zu testen. Ohne Gewähr selbstverständlich, auch auf eigenes Risiko, ich bin weder Arzt noch Guru. – Das Experiment besteht darin, daß man wettkampfmäßig beispielsweise Champagner im direkten Vergleich gegen Meditation antreten läßt. Und das geht so:
Man trinkt von einem alkoholischen Getränk seiner Wahl so viel, wie man persönlich braucht, um den leicht angeheiterten Zustand zu erreichen, wo man alles nicht mehr so eng sieht, aber auch noch nicht betrunken ist. Dies dürfte von Person zu Person verschieden sein. Echte Alkoholabhängige brauchen dafür möglicherweise ein Sixpack Bier. Für Abstinenzler reicht andererseits schon ein kleiner Schluck Prosecco. Aber das ist im Prinzip egal. Dann, wenn also der leichte Alkoholnebel aufzieht, setzt man sich mit aufrechtem Rücken hin und fängt an, langsam ein- und auszuatmen. Nichts anderes, nur tief atmen und ruhig sitzen. Und was nun passieren kann, nach mindestens zwei, drei Minuten allerdings erst, ist, daß man schlagartig die Lust an weiterem Alkohol verliert. Aber trotzdem sofort auf jede Party gehen und Spaß haben könnte.
Das ist eine sehr seltsame Erfahrung und bedeutet praktisch, daß bewußtes Atmen vereint mit Stillsitzen (die beiden Komponenten von Meditation) Alkohol dominieren. Innerhalb eines bestimmten alkoholischen Promillebereichs natürlich nur. Man könnte auch sagen, daß meditatives Atmen de facto eine bewußtseinsverändernde Tat ist. Im Unterschied zu einer konsumierbaren Droge. Dann versteht man plötzlich auch, warum Buddha der „Erwachte“ bedeutet, – und nicht der Gelangweilte oder gar Langweilige. Der historische Buddha konnte auch deswegen stundenlang unter einem Baum sitzen, weil es ihm SPASS gemacht hat. Wenn Alkoholiker wirklich wüßten, was sie Schluck für Schluck verpassen, würden sie sofort den Inhalt ihrer Flaschen in den Ausguß kippen.
Nebenbei würde damit übrigen ein Problem gelöst werden, das man das „Champagner-Problem“ nennen könnte. Typische Umschreibungen davon sind: „Die Party war super, der Kater aber morgens furchtbar!“ Oder auch: „Die Party und der Kater danach waren beide furchtbar.“ Oder auch „Total langweilig die Party, aber kein Kater wenigstens!“ Aber sehr selten wird man Folgendes hören: „Die Party war super und am nächsten Morgen bin ich den Marathon unter 4 Stunden gelaufen.“ Ich würde sogar fast wetten, daß man das niemals hören wird. Es sei denn, man fängt an zu meditieren. Dann kann man das vielleicht sogar irgendwann selbst sagen. Wie gesagt, ohne Gewähr.
Diese befreiende Transformation von Alkohol zu Atmen kann sich ereignen, eine Garantie gibt es aber nicht. Falls es nicht passiert und man stattdessen wieder erleichtert oder gelangweilt zum Glas greift, muß man spirituell allerdings nicht verzweifeln. Direkt nach dem Trinken von Alkohol zu meditieren ist vermutlich eine sehr fortgeschrittene Technik; die nicht nur Distanz, sondern auch Nähe zum Alkohol voraussetzt.
Denn der Konflikt wird zugelassen: Man ist gleichzeitig Mönch und Säufer, Heiliger und Sünder, Engel und Teufel, Yin und Yang, Gut und Böse, all das geht nahtlos ineinander über. Und das kann dann einen psychischen Quantensprung auslösen. Dergestalt, daß die eigene innere Energie erfahrbar wird und man keine äußeren Krücken in Form von Drogen mehr braucht. „Spirituelle“ Getränke sind dann zwar immer noch eine Option – denn Meditieren ist zumindest am Anfang anstrengender als einfach eine Flasche aufzumachen und manchmal hat man dazu vielleicht einfach keine Lust –, aber der Reiz ist zumindest stark verblaßt.
Man kann übrigens diesen Selbstversuch auch abwandeln – so wie man zum Beispiel eine zu schwierige, zu freakige Yogapose an die eigenen Möglichkeiten anpaßt (und trotzdem authentisches Yoga macht! ) –, indem man auf das Trinken von vornherein verzichtet. Das ist dann einfacher und je nach Perspektive möglicherweise noch fortgeschrittener. Aber auf das Meditieren kann man nicht verzichten, wenn man positive Überraschungen im Leben erleben will. Auch das vitalisierte, also tiefe und ruhige Atmen ist beim Meditieren essentiell. Der Grund, warum die meisten Menschen von Meditation unberührt bleiben, dürfte vermutlich praktisch-physisch darin liegen, daß ihr Atem keine unterstützende Power mitbringt, also viel zu flach, ohne echtes Volumen ist. Und Meditation ohne begleitende Atemkraft ist so ähnlich wie Champagner ohne Alkohol. Es prickelt, aber es berauscht nicht wirklich.
Pranayama, die Kunst des Atmens, wiewohl für Meditation zwingend notwendig, führt jetzt aber vom eigentlichen Thema zu weit weg: daß Meditation die vielleicht coolste Partydroge ist. Sie ist sogar so cool, daß man letztlich auf gar keine Party mehr gehen muß, weil man Partystimmung stets und sofort erzeugen kann; wenn man denn will.
Möglicherweise scheint dies dem einen oder der anderen sehr weit hergeholt zu sein, von drei leeren Champagnerflaschen am Gendarmenmarkt in Berlin schnell und mühelos bei Meditation zu landen. Aber so ticken mit dem Unbewußten kommunizierende Autoren, sie vernetzen ununterbrochen, was nur an der Oberfläche getrennt erscheint. Vor allem, wenn sie gerade an einem Meditationsroman schreiben, dann lauert Buddha an jeder Ecke und in jeder Flasche.
2 Antworten
Schön geschrieben!
🙏