Bei einer Trauerfeier für den kürzlich verstorbenen Aikidolehrer und Autor Jürgen Ebertowski traf ich einen Haufen alter Bekannter wieder, die ich schon seit über einem Dutzend Jahren nicht mehr gesehen hatte, da ich von der japanischen Kampfkunst zu Yoga gewechselt war. Hat man aber lange mit Leuten hautnah auf der Matte trainiert, entsteht eine emotionale Vertrautheit, ähnlich wie mit Klassenkameraden aus der Schulzeit, die recht zeitresistent ist. Allerdings nicht meinungsresistent. Als der Smalltalk beiläufig das Thema Corona streifte und ich mich unbekümmert als ungeimpft outete, kühlte die Freundlichkeit meines Gesprächspartners – den ich nur von ein paar gemeinsamen, lange zurückliegenden Trainingseinheiten kannte, aber immerhin – schlagartig ab. Und auch meine eigene Entspanntheit verwandelte sich in Bissigkeit, fairerweise erwähnt. Ich war aus heiterem Himmel wieder mit dem damaligen Hauptvorwurf konfrontiert: als Ungeimpfter eine asoziale Virenschleuder zu sein, eine gesellschaftliche Gefahr. Als ich meine grundsätzliche Kritik gegenüber den staatlichen Coronamaßnahmen äußerte, eine reale Zeitreise fünf Jahre zurück, wurde mir wieder das ominöse: „Und was war mit Bergamo? Den Leichenwagen?“ entgegengeschleudert.
In diesem Moment dämmerte mir plötzlich, völlig unabhängig vom Thema Corona, daß meine Art der Wahrnehmung einen Tick anders ist als die der meisten Leute. Nicht völlig anders, ich sehe keine Geister und höre auch keine Stimmen oder etwas in der Art, es ist nichts Esoterisches oder gar Drogeninduziertes. Es ist eine ganz spezielle Asymmetrie, die mir schon immer an mir zwar aufgefallen ist, an die ich jedoch bisher keine tieferen Gedanken investiert habe. Was ich in diesem Blog jetzt aber tun werde. Denn erstaunlicherweise handelt es sich bei dieser Art der Wahrnehmung um keine persönliche Marotte, was man vielleicht zunächst denken könnte, sondern tatsächlich um eine grundsätzlich andere, aber trotzdem eher objektive Perspektive auf die Welt.
Die typische und meistverbreitete Art der Wahrnehmung, aus der sich dann feste Meinungen bilden, beispielsweise politische oder religiöse, beruht darauf, daß isolierte Details zu einem Gesamtbild verbunden werden; ähnlich wie in jenen Kinderbüchern, wo man einzelne, auf der Seite wild verstreute Zahlen in ihrer Reihenfolge mit einem Stift verbindet und so beispielsweise das Bild einer Möwe entsteht. Die Wahrnehmung hangelt sich also zunächst in einer Art Blindflug von Detail zu Detail und je nachdem wie die Zahlen, die „Informationen“, angeordnet sind oder manipulativ angeordnet werden, etwa von den Medien, entsteht am Ende ein unterschiedliches Gesamtbild. Die Kombination der isoliert wahrgenommenen Tatsachen ist mehr oder weniger beliebig, solange man nur ein passendes „Narrativ“ erfindet, also irgendeinen halbwegs plausiblen Zusammenhang. Typisch für diese Sichtweise ist immer, daß der „Einzelfall“ sofort entwertet wird, wenn er nicht ins Bild passt.
Dies ist jedoch nicht die einzige Art der Wahrnehmung. Deutlich seltener vorkommend gibt es jene andere, die im einzelnen Detail sofort ein Gesamtbild realisiert; – als würde es sich um ein Hologramm handeln, wo ja ein zweidimensionales Bild eine dreidimensionale Gestalt erzeugt. Und wo, wenn ich mich richtig erinnere, jeder Filmschnipsel immer das komplette Bild in sich birgt. Gleich der Welle im Ozean, um eine mehr klassische Analogie zu verwenden, ist die Einzelheit sofort untrennbar mit dem Ganzen, eben mit der „Gestalt“ des Meeres verschmolzen.
Diese Perspektive sieht jede Einzelheit von vornherein nicht als isoliertes Phänomen, sondern immer als Ausdruck einer aufscheinenden Ganzheit. Der „Einzelfall“ ist also extrem aufgewertet und niemals in seiner Bedeutung negierbar. Was unter anderem heißt, daß diese Sicht auf die Welt aus sehr viel weniger Information sehr viel mehr schlußfolgern kann, weil selbst das unscheinbarste Detail schon wie ein Füllhorn mit Inhalt aufgeladen ist, wenn auch nicht immer sofort erkennbar. Die Figur Sherlock Holmes beispielsweise lebt von dieser qualitativen, auf die wesentliche Gestalt eines Menschen oder einer Sache fokussierten Wahrnehmung. Aber im Grunde trifft dies auf jeden Menschen zu, dessen Wahrnehmung darauf trainiert ist, in einem singulären Detail gleichsam das Meer anbranden zu sehen.
Diese Wahrnehmung von der verborgenen Gestalt – und das ist eine sehr praktische Konsequenz – führt oft zu einer völlig unterschiedlichen Ansicht einer gegebenen Realität als jene, die von isolierten Informationen bestimmt wird. Um das Beispiel der mit verbundenen Nummern gezeichneten Möwe im Kinderbuch auf eine realere Weise aufzunehmen und fortzuführen: Eine Möwe in einer Voliere im Zoo sieht für den „informierten“ Blick mehr oder weniger genau so aus wie eine Möwe am Meeresstrand; grauweißes Gefieder, fleischfarbene Füße mit Schwimmhäuten und Krallen, gelber Schnabel. Wer allerdings die Gestalt wahrnimmt, für den ist die Möwe in der Voliere keine wirkliche Möwe mehr. Sie sieht zwar genauso aus, aber ihr fehlt das Wesentliche, das, was sie bestimmt und beispielsweise von einem Haushuhn unterscheidet: die Möglichkeit, zwischen Himmel und Meer zu fliegen und vielleicht einen Fisch zu fangen. Sie hat durch den Käfig für den ungetrübten Blick ihre wahre Gestalt verloren. Dies ist zunächst nur eine Tatsache, keine moralische Anschuldigung.
Das Wichtige an diesem Beispiel ist die Erkenntnis, daß bei strengen Maßstäben eigentlich nur Menschen, die die Gestalt einer Sache, eines Lebewesens, eines Menschen potentiell wahrnehmen, überhaupt imstande sind, eben diese Sache, dieses Lebewesen, diesen Menschen realistisch zu verstehen. Der Biologe, „Wissenschaftler“, der „alles“ über jene Möwe in jener Voliere weiß, etwa ihr Ausbreitungsgebiet, ihren lateinischen Namen, ihre bevorzugte Nahrung und so weiter, weiß paradoxerweise nichts über sie, wenn er nicht auch sofort die im Käfig fehlende, beziehungsweise verhinderte Gestalt bewußtseinsmäßig realisiert.
Diese an Gestalt orientierte Wahrnehmung hat den großen Vorteil, daß sie sich anhand nur weniger Merkmale relativ schnell und vor allem unabhängig von äußerer Manipulation ein recht klares Bild einer Sache machen kann. Von außen wirkt dies oft wie eine starke Intuition (sofern die Realität korrekt abbildend). Oder wie subjektiver Wahn (falls die wahrgenommene Gestalt nicht existiert). Wobei man leicht übersieht, daß diese Wahrnehmung – unabhängig von ihrer Korrektheit, denn Irren ist menschlich – letztlich auf Fokus und Konzentration beruht, auf extremer Wertschätzung des Einzelfalls.
Der Nachteil und was der Grund sein dürfte, warum diese „holographische“ Perspektive auf die Welt eher selten als konstanter Standard vorkommt, ist, daß es natürlich sehr viel anstrengender ist, die potentielle Gestalt einer konkreten Sache, Begebenheit oder eines Menschen wahrzunehmen als viele isolierte Details irgendwie zu verbinden, – oder noch bequemer: durch die bevorzugen Medien verbinden zu lassen.
Um wieder zur Smalltalk-Situation bei der Trauerfeier zurückzukommen, die ja den Anlaß für diesen Blogtext gegeben hat, wo also fünf Jahre später immer noch Fernsehbilder von Leichenwagen in Bergamo als Begründung für die Gefährlichkeit des Corona-Virus herhalten mußten und sofort die Emotionen wieder hochkochten. Keine Sorge übrigens, mir geht es nicht um eine weitere Meinungsäußerung zu diesem Thema, das haben schon viele andere hervorragend gemacht, z.B. hier. Sondern ich möchte anhand von meiner ursprünglichen Reaktion auf die Corona-Hysterie darstellen, wie eine gestaltorientierte Wahrnehmung im konkreten Fall strukturell funktioniert. Ganz unabhängig davon, ob sie zutrifft oder nicht. Darüber mag sich dann jeder selbst ein Urteil bilden.
Als also die ersten Bilder und Meldungen in den Medien kamen, von zahllosen Toten an bestimmten Brennpunkten, wie eben Bergamo oder New York, beeindruckte mich das nicht besonders. Einfach deswegen, weil das gehäufte Auftreten von Todesfällen zunächst einmal tausend verschiedene Gründe haben kann. Ich war weitaus mehr geschockt von jenem von islamgläubigen Attentätern ausgeführten Massaker im Pariser Bataclan und im Vorort Saint Denis 2015, wo insgesamt 130 Menschen getötet wurden und die Polizei wortwörtlich durch das Blut der Opfer watete. Das war völlig klar eine Kampfansage an den freien Westen und die Zivilisation. Im Unterschied zu Bergamo mußte dort niemand Leichenwagen und gestapelte Särge als symbolische Eyecatcher filmen, um auf den Horror hinzuweisen. Die Tatsache des Massakers war offensichtlich.
Das war also der Grund, warum ich nicht in Panik beim Auftauchen des Corona-Themas verfiel: Ich erwartete (und tue dies immer noch) von seriösen Nachrichten-Medien belastbare Fakten und keine beliebig interpretierbaren Bilder und Filmchen von Leichenwagen und Ähnlichem. Bezogen auf die gestaltorientierte Wahrnehmung bedeutete dies, daß Leichenwagen und gehäufte Todesfälle eben gerade auch als Fakten nicht darauf hinwiesen, zwingend schon gar nicht, daß eine tödliche Pandemie ausgebrochen war. Auch dann nicht, wenn diese Meldungen mit besorgten Gesichtern präsentiert wurden. Die reale Gestalt einer Pandemie braucht mehr als mediale Symbole, um authentische Wirklichkeit zu sein.
Daß ich in der Folge auch dann innerlich cool blieb, als Maskenpflicht, Kontaktverbote, Abstandsregeln und so weiter offiziell der Bevölkerung aufgezwungen wurden, erklärte sich ebenfalls aus dieser holographischen Wahrnehmung: Die Gestalt einer Pandemie durch einen tödlichen Virus implizierte (und impliziert) für mich, besonders im weltweiten Maßstab, was der Begriff Pandemie ja aussagt, daß Leute nicht nur in den Medien an Corona verstarben, sondern sichtbar und häufig im Hier und Jetzt.
Doch niemand brach vermehrt auf den Straßen oder in den Wohnungen zusammen, Leute waren zwar erkältet wie eh und je, aber die Realität auf den Straßen Berlins war die, daß Kinder zwar mit Hubschraubern von der Polizei beim Schlittenfahren im Park verfolgt wurden, aber nicht, daß Leute von einer tödlichen Krankheit wie etwa bei der mittelalterlichen Pest für alle sichtbar dahingerafft wurden. Vor einer Ampel, im Supermarkt, in der U-Bahn, die Menschen erfreuten sich für eine tödliche Pandemie einer erstaunlichen, zumindest körperlichen Gesundheit. Mögliche Knappheit an Klopapier war zwischendurch auch ein heißes Thema, zumindest in Deutschland, was eigentlich schon viel über den wirklichen Ernst der Lage aussagte.
Für eine an Gestalt und Realität orientierte Wahrnehmung war also die Gestalt einer tödlichen Infektionskrankheit in meiner persönlichen Lebenswelt nicht gegeben. Das kann man natürlich für naiv halten, diesen alltäglich konkreten Blick auf die Welt, aber es ist eigentlich genau das Gegenteil: es ist Zeichen einer gesunden Skepsis, die mediale Wirklichkeit mit der realen abzugleichen. Und sich eben nicht mit willkürlich verknüpften und Panik verbreitenden „Informationen“ zufriedenzugeben.
Diese geistigen Prozesse liefen in meinem Fall nicht bewußt ab, ich versuche hier aber, die unbewußten Wege meiner Wahrnehmung nachzuzeichnen, die relativ eindeutig für mich zum Ergebnis führten, weil eben die reale Gestalt einer tödlichen Pandemie nicht wahrnehmbar gegeben war, daß die ganzen Corona-Maßnahmen entweder auf einem Irrtum beruhten oder einer absichtlichen Täuschung entsprangen. Aber das ist ein anderes Thema. Um mich zu wiederholen: Ich habe hier das Prinzip der holographischen Wahrnehmung skizziert, damit man diese Art der Weltsicht besser nachvollziehen kann. Vor allem, wenn man sie selbst nicht bewußt im Repertoire hat. Nicht, um damit irgendeine Meinung durchzudrücken. Corona ist nur ein halbwegs aktuelles Beispiel.
Obwohl die hier beschrieben Perspektive auf die Welt, die also mehr oder weniger intuitiv im Besonderen das Allgemeine, die Gestalt, aufscheinen sieht (oder eben nicht sieht), als konstante Sichtweise zwar tatsächlich vergleichsweise eher selten ist, haben aber fast alle Menschen in besonderen Momenten ihres Lebens Zugang zu diesem „anderen“ Blick. Er äußert sich als innere, durch Vollkontakt mit Wirklichkeit gespeiste Gewißheit; die als typisches Kennzeichen fast immer eher leise als laut auftritt, weil sie nichts beweisen muß, weder sich noch anderen.
Eine eigenständige Haltung, die allerdings im Zweifelsfall offenbar sehr provozierend auf Leute zu wirken scheint, die ihr Weltbild nicht aus eigener Anschauung und eigenen Gedanken beziehen. Anders ist die teilweise extreme Aggression kaum zu erklären, der Leute ausgesetzt waren, die nicht die offizielle Meinung des die Menschheit gefährdenden Virus teilten und die Feinstaub-Masken zwar beim Abschleifen von Parkettböden sinnvoll fanden, aber nicht als Virenschutz.
Einer meiner früheren Aikidolehrer, den ich auf jener Trauerfeier wiedertraf und der einen sehr elegant undogmatischen Stil – Video –praktiziert, erzählte mir beispielsweise, daß er seine Gruppe, die jahrzehntelang gemeinsam trainierte, auflösen mußte, weil ihm die Schüler plötzlich fast an die Gurgel gingen. Nur deswegen, weil er damals vor dem Reichstag gegen die Coronamaßnahmen mitdemonstriert hatte. Was ein gespenstisches Licht auf die Psyche von Leuten wirft, – und auf die deutsche Gesellschaft insgesamt, die sich selbst für tolerant hält, aber beim ersten echten Konflikt nur noch Schwarz oder Weiß kennt.
Die holographische Wahrnehmung jedenfalls oder das Selberdenken oder der Blick auf die Gestalt einer Sache oder wie immer man diese Perspektive des Bewußtseins benennt, kann paradoxerweise, obwohl sie eher entspannt und fokussiert daherkommt, auf Wahrheitssuche getrimmt ist, statt auf Meinungsmache, tatsächlich ziemliche Aversionen auslösen. Meistens bei extrem kollektiv sozialisierten Menschen, die keine andere Meinung als die gerade vorherrschende, oft erschwerenderweise völlig egal welche, akzeptieren.
Aber diesen Preis muß man in der gegenwärtigen Welt wohl zahlen, wenn man den Dingen und Menschen auf den Grund gehen und nicht nur in einer der vielen Meinungsblasen überleben will. Wenn alle Stricke reißen und man in Gefahr gerät, durch zeitgeistigen Druck völlig die innere Orientierung zu verlieren, kann man zudem immer noch einem geliebten Menschen in die Augen schauen oder, für eher Fortgeschrittene, sogar einer Möwe: Denn genau in diesem Augenblick kommuniziert man automatisch mit authentischer Gestalt und nicht nur mit leicht manipulierbaren Informationen.