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Silvo Lahtela

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Warum Künstliche Intelligenz keine Weltliteratur schreiben kann

Mit Feder schreiben
Das Mysterium des Bewußtseins wird durch Künstliche Intelligenz niemals gelöst, weil es Mathematik und damit jeden Computer transzendiert.
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Ein Flirt mit Gemini

 

     Bei einer YouTube Werbeunterbrechung während eines Schwimm-Videos – meine Leidenschaft seit ein paar Jahren – schaffte ich es nicht, sie wie sonst immer sofort auf lautlos zu stellen, da ich gerade ein paar Meter weiter vom Computer entfernt die Espressomaschine bediente. Also hörte ich zu, wie Gemini, der KI Assistent von Google, einer jungen Frau modische Ratschläge gab. Sie fragte nämlich, sich selbst mit Smartphone filmend, ob ihr Kleid okay sei und ob sie eine Jeansjacke dazu tragen solle. Weiter zeigte sie Gemini drei Varianten von Lippenstift und ob ihre Turnschuhe besser zum Outfit passen würden als ihre normalen Halbschuhe. Die App antwortete, daß das Kleid ihr sehr gut stehen würde (Höflichkeit kostet auch für die KI nichts) und daß außerdem Jeans und Sneaker als Freizeitlook besser seien als förmliche Kleidung wie etwa Blazer oder Pumps.

 

Smartphone- statt Gottvertrauen

 

     Ich war fasziniert. Nicht wegen der Antworten des Programms: Daß irgend jemand Sneaker und Jeans als „casual wear“ definiert hatte, war kein besonders komplexer Logarithmus. Was mich faszinierte, eher negativ als positiv allerdings, war das Smartphonevertrauen der jungen Frau: Daß sie dem modischen Urteil einer App mehr Gehör schenkte als ihrer eigenen und inneren Stimme für Schönheit.

 

Das Ende humaner Literatur?

 

     Simple Alltagsentscheidungen in die unsichtbaren Hände der sogenannten Künstlichen Intelligenz zu geben, korrespondiert auf der praktischen Ebene mit einer ziemlich ideologisch angehauchten Meinung, die alle Jahre wieder meinen Weg kreuzt. Während Smalltalks, auf Partys, in Diskussionen, in Chats: Geht es um KI, wird früher oder später von bis ins Mark elektronisch sozialisierten Leuten das Statement rausgehauen, daß es nur eine Frage der Zeit sei, bis Computer unidentifizierbar als solche die bessere Literatur schreiben würden als humane Autoren. Daß also mein ehrwürdiger Berufsstand dem Untergang geweiht sei, ähnlich wie die Dinosaurier oder Tante Emma Läden im Zeitalter von Amazon.

 

„Allgemeine Künstliche Intelligenz“ (AGI)

 

     Diese für echte Dichter düstere Prognose beruht allerdings auf einem grundsätzlichen Irrtum, sowohl was Literatur angeht, aber auch darüber, was authentische menschliche Intelligenz im Unterschied zur künstlichen ausmacht. Wobei die Version der KI, um die es hier geht, jene ist, die angeblich sinnstiftende Features des menschlichen Bewußtseins übernimmt. In der wissenschaftlichen Welt nennt man diese potentiell aufgepeppte, aber vermutlich letztlich nur in der Einbildung existierende Form: AGI („Artificial General Intelligence“). 

     Allgemeine Künstliche Intelligenz würde beispielsweise bedeuten, daß ein Computer im Gespräch mit einem Menschen auch Körpersprache richtig deuten könnte und überhaupt einen Sinn für permanent wechselnden Kontext hätte. Also mit komplexen Systemen zumindest so souverän umgehen könnte wie ein vierjähriges Kind.

 

Menschenähnliche Intelligenz mathematisch nicht modellierbar

 

     Um es in simplen Worten vorwegzunehmen: Mathematisch sind komplexe Systeme (beispielsweise das Verhalten eines Fuchses in einer Großstadt) unmöglich zu modellieren, zu viele mathematisch undefinierbare Elemente und damit, weil Computer mathematische Wesen sind, ist Allgemeine Künstliche Intelligenz unmöglich. Mathematisch darstellbare Systeme hingegen, wie etwa die Gesichtserkennungssoftware auf Flughäfen, die bekannte Terroristen aus den Millionen von Passagieren herauszufiltern versucht, eine Art Memory-Spiel auf hohem Niveau, sind natürlich eine andere, aber im Prinzip eher banale, Gemini-taugliche Sache.

 

Experten oder „Sapere aude“

 

     Aber zunächst ein kleiner, grundsätzlicher Einschub, bevor es weitergeht:
Im gegenwärtigen Zeitalter der Experten für praktisch alles und jeden werden Leute, die sich ihre eigenen Gedanken machen, ohne ausgewiesene Fachleute zu sein, automatisch sehr kritisch begutachtet. Sie stören als unabhängige Geister den kanalisierten Fluß des offiziellen Diskurses, aber mehr noch erinnern sie daran, daß selbst denken tatsächlich immer eine Option ist. Auch dieser Blog speist sich aus dem aufklärerischen Motto von Kant: „Sapere aude – habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“. Natürlich nicht nur aus dem hohlen Bauch, sondern inspiriert von bestimmten Informationen. Die Quelle, die ich hier informativ angezapft habe und die sozusagen meinen Kompaß darstellt, ist dieses Buch: „Why Machines Will Never Rule the World“. Mein Text hier ist eine speziell auf Literatur bezogene Anwendung der dort dargestellten Theorien.

 

Computer sind mathematiksüchtig

 

     Nachdem also geklärt ist, daß ich weder Experte bin, aber auch nicht auf solche verzichte, wieder zurück zum Thema, nämlich warum Computer grundsätzlich keine Literatur können, die diesen Namen verdient. Zunächst einmal ist das, was ein Computer an Daten ausspuckt, immer das Resultat logischer Operationen. Die vorher definiert wurden und die einen logisch definierten, also begrenzten Raum voraussetzen.
     Fehlt dieser definierte, klar abgegrenzte Raum (etwa ein Schachbrett, ein simuliertes Sonnensystem, die aufs Wesentliche reduzierten Interaktionsmöglichkeiten mit einem Bankautomaten), sind mathematisch erzeugte Aussagen via Computer grundsätzlich fehlerhaft, beziehungsweise sinnlos. Umso mehr, je offener, also von fremdem Kontext bestimmt der Raum ist. Beispielsweise sind Wettervorhersagen für ein beschränktes Gebiet und für die nächste Zukunft oft erstaunlich korrekt, aber je größer das Areal und die Zeitspanne der Prognose, desto weniger wirklichkeitsgetreu wird sie. Weil dann der mathematisch halbwegs definierbare Raum verlassen wird und die Dynamik komplexer Systeme (wie das weltweite Wettergeschehen) mathematisch grundsätzlich nicht abbildbar ist: zu viel Variabeln, zu viele Dimensionen.

 

Der Flügelschlags eines Schmetterlings

 

     Wenn der berühmt-berüchtigte Flügelschlag eines Schmetterlings irgendwo auf der Welt möglicherweise einen Tsunami auslösen kann, muß Mathematik und damit die Intelligenz von Computern passen. Ein mehr alltägliches und weniger symbolisches – und alle hysterischen Klimapropheten zur Bescheidenheit aufrufendes – Beispiel für diese Art von komplexen, sich dem Verständnis der KI entziehenden Systemen ist dieses: Selbst die simple Rauchfahne einer Zigarette (physikalisch: Turbulenz) ist nicht in ihrem Verlauf vorhersehbar, das heißt, sie ist nicht mathematisch eindeutig darstellbar.

 

Espressomaschine und Chaos

 

     Und hier komme ich zum Grund, warum ich diesen Text mit dem Hinweis auf mein Hantieren mit der Espressomaschine angefangen habe: Ohne dieses zufällige Hantieren mit der Espressomaschine würde diesem Text der konkrete Anlaß fehlen (die nicht leiser gestellte Gemini-Werbung, weil ich mit dem Espresso beschäftigt war). Er würde in der Form nie geschrieben worden sein. Eine Künstliche Intelligenz nun, die das Bewußtsein eines Autors imitieren wollen würde, müßte also nicht nur Sprache erzeugen können (davon gleich mehr), sondern mathematisch die Tatsache abbilden können, daß das Hantieren mit einer Espressomaschine zum Zeitpunkt einer bestimmten Internetwerbung die Initialzündung für einen Text bedeutet. Dies ist unmöglich, weil es zu viele Variablen gibt (Espressomaschine, Entfernung zum Computer, Zeitpunkt der Werbeunterbrechung usw.), aber auch deswegen, weil es keinen mathematisch klar definierten Raum gibt: Espressomaschine, Internetwerbung, Sprache usw., – das sind alles eigene und zudem komplex dynamische Systeme, die nicht aufeinander zurückführbar sind, sondern sich stattdessen gegenseitig chaotisch, also mathematisch unfaßbar, aufschaukeln.

 

Computergesteuerte „Kreativität“

 

     Man könnte nun zugestehen, daß in der Tat eine KI nicht die Entstehungsbedingungen eines Textes imitieren muß, um diesen zu erzeugen, sondern einfach durch sprachliche Permutationen und Stilanalysen von Weltliteratur irgendwann mit einem Meisterwerk um die Ecke kommt. Sie probiert halt solange herum, immer mehr verfeinert durch immer detaillierte Sprachanalysen von klassischen und modernen Texten, um auf diese Weise, aufgefrischt mit zeitgemäßen Inhalten, beispielsweise Romane zu erzeugen, die stilistisch denen weltberühmter Autoren ähneln. Möglicherweise sogar auf frappierende Weise. Eine Künstliche Intelligenz könnte etwa die langen Sätze von Proust mit der Bissigkeit von Heine und dem Panoramablick von Tolstoi mischen, aufgelockert mit japanischem Haiku-Minimalismus, strukturiert storyymäßig vielleicht als Nachtmeerfahrt, also der Weg des Helden von der Dunkelheit zum Licht, – und schon bekommt den nächsten Nobelpreis für Literatur ein Programmierer, der vielleicht noch nie in seinem Leben ein literarisches Buch zu Ende gelesen hat.

 

Das unlösbare Dilemma von KI

 

     KI-Groupies dürften ungefähr diese Art von computergesteuerter Kreativität meinen, wenn sie die These vertreten, daß Allgemeine Künstliche Intelligenz (AGI) eher früher als später die menschliche Literatur und überhaupt jede humane Kunst überflüssig machen wird. Um von allen anderen herbeiphantasierten Konsequenzen zu schweigen … Aber sie unterliegen dabei dem gleichen strukturellen Irrtum wie diejenigen, die glauben, man könne ein komplexes System wie das Weltklima mathematisch modellieren.
     Denn literarische Sprache ist kein abgeschlossenes, nur auf sich selbst mit Regeln und Definitionen bezogenes System wie etwa Schach oder Go. Sondern im Gegenteil bezieht sich tatsächlich potentiell jedes Wort eines anspruchsvollen Textes auf eine Wirklichkeit, die auch außerhalb der Sprache liegt. Das heißt, die KI kann auf der rein sprachlichen Ebene analysieren und synthetisieren so viel sie will, solange sie den immanenten Bezug zur Wirklichkeit, der praktisch in jedem Satz mitschwingt, nicht berücksichtigt, ist sie eine Karikatur von Literatur.

     Und das Problem ist: Sie kann diesen alles entscheidenden Bezug zur Wirklichkeit am Ende des Tages höchstens rudimentär und schematisch berücksichtigen, weil die ansonsten endlose Flut von wechselnden, aber realen Bedeutungen wie schon beim Weltklima gesehen mathematisch nicht darstellbar ist.

 

„Ich liebe dich“ – als literarischer Dealbreaker 

 

     Ein Beispiel. Schon die Verwendung des nicht besonders originellen, aber literarisch unverwüstlichen Satzes: „Ich liebe dich“ dürfte Künstliche Intelligenz literarisch scheitern lassen. Während sowohl Proust als auch Heine als auch Tolstoi je auf ihre Weise diesen Satz verwenden und damit jeweils eine spezifische Welt außerhalb der Sprache aufscheinen lassen, weil ihre Sprache eben an persönliche Erfahrung der Wirklichkeit gekoppelt ist, ist der von KI generierte Satz: „Ich liebe dich“ einfach nur ein Satz ohne besondere, in Erfahrung wurzelnder Bedeutung. Logischerweise so, denn ein Computer hat natürlich als Maschine niemals real menschliche Erfahrungen gemacht. Das heißt, die KI, da sie nicht auf eigene Erfahrung zurückgreifen kann, muß den Realitätsbezug des Satzes: „Ich liebe dich“ per Logarithmus erzeugen; also indem sie etwa aus den Millionen Möglichkeiten der realen Bedeutung irgendeine wahrscheinliche Variante herauspickt, die im jeweiligen Kontext irgendeinen Sinn macht.
       Als Leser merkt man aber, wenn ein Text aus solchen „wahrscheinlichen“ und nicht organischen Bausteinen zusammengezimmert worden ist. Zum Beispiel: „,Ich liebe dich!‘, sagte der Professor zu seiner magersüchtigen Studentin, während gleichzeitig am Horizont der Pilz einer Atombombe aufleuchtete und er sich fragte, ob er den Strafzettel für seinen vom Behindertenparkplatz abgeschleppten Wagen schon bezahlt hatte.“

 

Elektronische Schizophrenie

 

     Solche Sätze sind inhaltlich und formal zwar oberflächlich korrekt, sie transportieren sogar Inhalt, aber sie haben fürs menschliche Bewußtsein keine echte Kohärenz. Sie zerfallen in isolierte Bruchstücke, ähnlich wie die Sätze von Schizophrenen, weder innere noch äußere Realität wird auf sinnvolle Weise gespiegelt oder erzeugt. Was aber logisch ist, weil Künstliche Intelligenz, ganz ähnlich wie schizophrenes Bewußtsein, kein eigenständiges, stabiles Zentrum hat, von dem aus sie die Flut der Wahrnehmungen oder bei einem Computer eben die Flut der Daten sinnvoll ordnen kann. Zumindest dann nicht, wenn der Kontext der Daten wechselt, was bei Literatur (als komplexes System) praktisch bei jedem Wort der Fall ist.
     Jeder kennt ja die harmlosen menschlichen Macken, wenn manche Leute immer nach einem Satz kurz laut auflachen oder dauernd „sozusagen“ in ihre Sätze einflechten. Genau diese Art von Schematismus, unabhängig von der Situation, ist für Künstliche Intelligenz unausweichlich. Sie muß gleichsam „neurotisch“ agieren, also immer wieder bestimmte Rechenoperationen auch dann anwenden, wenn sie keinen Sinn machen, weil eben genau das, nämlich Rechenoperationen, ihr Wesen sind.

 

Die unendlich vielen Siegel der Wirklichkeit

 

     Das Wesen der Literatur, um die Kunst zu nehmen, der ich mich gewidmet habe, sind aber keine Rechenoperationen, Logarithmen, Wahrscheinlichkeiten, sondern stattdessen ein ganzheitlicher, oft völlig irrationaler und nicht an äußeren Maßstäben ausgerichteter Prozess. Man könnte sogar so weit gehen und sagen, daß in dem Moment, in dem Literatur vollständig erklärbar wird, also ein Computer sie erzeugen kann, sie sofort aufhört, eine solche zu sein und zu Kitsch zerfällt. Das Unbegreifliche und Intuitive – die unsichtbare Aura zwischen den Zeilen, die jeder echten Literatur eigen ist, ist für Künstliche Intelligenz ein Buch nicht nur mit sieben, sondern mit unendlich vielen Siegeln.
      Was möglicherweise auf der unbewußten Ebene die Sympathie vieler Menschen für Künstliche Intelligenz erklärt: Sie fühlen instinktiv, ohne es in Worte fassen zu können, daß im Grunde die „alleswissende“ Maschine auch keinen echten Durchblick hat. Und nichts ist für eine gute Freundschaft förderlicher als das Band einer gemeinsamen Schwäche.

 

Spiritualität vs. Unterwerfung

 

     Scherz vielleicht doch beiseite. Eher scheint es so zu sein, daß die unreflektierte human-elektronische Unterwerfung bei Alltagsfragen im Kontakt mit Gemini und anderen Varianten der KI eine Art aktueller Verschiebung von religiöser und brachliegender Energie darstellt. Auch für die transzendente Energie (C. G. Jung sprach sogar von der transzendenten Funktion der Psyche) der Menschen gilt der Energieerhaltungssatz: Spiritualität oder Religiosität oder Glauben sind niemals ganz tot: sie wechseln nur ständig ihr Gesicht. Im Augenblick ist es oft die Karikatur des Smartphones oder die Fratze des Fanatismus, die echte Spiritualität ersetzt hat. Am 7. Oktober vor zwei Jahren in Israel war es sogar beides: Das Filmen und Posten eines Massakers, Smartphone und Maschinengewehr psychotisch vereint.

 

Weltliteratur

 

     Weltliteratur hingegen, um zum Abschluß noch einmal zum Thema zurückzukehren, macht sich weder mit der Karikatur noch der Fratze des Menschen gemein, sondern zeigt, oft ohne zu wissen oder zu wollen, daß das menschliche Bewußtsein ein ungelöstes, sich jeder Berechnung entziehendes, aber lebendiges Mysterium ist; gleichweit im Wesen entfernt von Banalität und Grausamkeit.

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